Cryptonomicon
Bleistift und Papier?«
Jemand reicht ihm einen Bleistiftstummel, aber es findet sich kein Papier. Shaftoe durchwühlt seine Taschen und entdeckt nichts als ein Gewirr von ICH KOMME WIEDER-Kondomen. Er nimmt eines, schält sorgfältig die beiden Hälften der Schutzhülle davon ab und wirft den Gummi in den See. Dann streicht er die Schutzhülle auf einer Munitionskiste glatt und beginnt zu schreiben: »Ich, Robert Shaftoe, im Vollbesitz meiner geistigen und körperlichen Kräfte, vermache hiermit alle meine weltlichen Güter einschließlich meines Sterbegeldes meinem leiblichen Sohn Douglas MacArthur Shaftoe.«
Er blickt auf, in die brennende Stadt. Er erwägt einen Zusatz, wie etwa »falls er noch am Leben ist«, aber einen Jammerknochen mag kein Mensch. Also unterschreibt er das blöde Ding einfach. Der Padre setzt als Zeuge seine Unterschrift darunter. Um der Sache noch etwas mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen, nimmt Shaftoe seine Hundemarke ab, wickelt das Testament um die Hundemarke und umwickelt das Ganze dann mit deren Kette. Er reicht es nach achtern durch, wo der Bootsmann es einsteckt und fröhlich versichert, er werde sich darum kümmern, wenn er nach Calamba zurückkomme.
Das Boot ist nicht breit, aber sehr lang, und es drängen sich ein Dutzend Huks darin. Alle sind bis an die Zähne mit Material bewaffnet, das offensichtlich vor kurzem von einem amerikanischen Unterseeboot gekommen ist. Aufgrund des Gewichts von Männern und Waffen liegt das Boot so tief im Wasser, dass ab und zu Wellen über die Dollborde klatschen. Shaftoe durchwühlt im Dunkeln Kisten. Er kann rein gar nichts sehen, aber seine Hände machen da unten die Bestandteile einiger Thompson-Maschinenpistolen aus.
»Waffenteile«, erklärt ihm einer der Huks, »verlieren Sie bloß keinen!«
»Von wegen Teile!«, sagt Shaftoe ein paar geschäftige Sekunden später. Er zieht eine komplett zusammengebaute Bleispritze aus der Kiste. Die roten Glutpünktchen eines halben Dutzends ICH KOMME WIEDER-Zigaretten machen einen Satz nach oben vor die Münder der Huks, als diese für einen kurzen Applaus die Hände freimachen. Jemand reicht ihm ein kuchenförmiges, von 45er Patronen schweres Magazin. »Wisst ihr, die Art von Munition haben sie bloß erfunden, um verrückte Filipino-Ärsche umzupusten.«
»Wissen wir«, sagt einer der Huks.
»Für Nips ist das heillos übertrieben«, fährt Shaftoe fort und setzt die Maschinenpistole und das Magazin zusammen. Die Huks lachen alle gehässig. Einer kommt von achtern nach vorn, sodass das Boot ins Schaukeln gerät. Es ist ein sehr junger, schmächtiger Bursche. Er streckt Bobby Shaftoe die Hand hin. »Onkel Robert, erinnerst du dich noch an mich?«
Mit Onkel Robert angeredet zu werden ist bei weitem nicht das Sonderbarste, was Shaftoe in den letzten paar Jahren passiert ist, deshalb lässt er es auf sich beruhen. Er mustert das Gesicht des Jungen, das von der brennenden Stadt trübe erleuchtet wird. »Du bist einer von den Altamira-Jungs«, rät er.
Der Junge grüßt ihn zackig und grinst.
Da erinnert sich Shaftoe wieder. Vor drei Jahren, die Familienwohnung der Altamiras, und wie er die frisch geschwängerte Glory die Treppe hochtrug, während überall in der Stadt die Luftschutzsirenen heulten. Eine mit Altamiras gefüllte Wohnung. Ein mit Holzschwertern und -gewehren bewaffneter Trupp Jungen, die Bobby Shaftoe ehrfürchtig anstarrten.Wie er sie grüßte und dann Hals über Kopf das Haus verließ.
»Wir haben alle gegen die Japaner gekämpft«, sagt der Junge. Dann macht er ein bekümmertes Gesicht und bekreuzigt sich. »Zwei sind tot.«
»Einige von euch waren verdammt jung.«
»Die Jüngsten sind immer noch in Manila«, sagt der Junge. Stumm starren er und Shaftoe über das Wasser in die Flammen, die inzwischen zu einer Wand verschmolzen sind.
»In der Wohnung? In Malate?«
»Ich denke schon. Ich heiße Fidel.«
»Ist mein Sohn auch dort?«
»Ich denke schon. Vielleicht auch nicht.«
»Wir gehen diese Jungs suchen, Fidel.«
Die halbe Einwohnerschaft Manilas scheint am Ufer oder im Wasser zu stehen und darauf zu warten, dass ein solches Boot auftaucht. Von Norden her rückt MacArthur an und von Süden her nähern sich die japanischen Luftwaffentruppen, sodass die Landenge zwischen der Manila Bay und der Laguna de Bay an beiden Enden von starken militärischen Kräften abgeriegelt wird, die sich im totalen Krieg befinden. An der Seeseite der Landenge ist eine überstürzte Evakuierung nach
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