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Cryptonomicon

Cryptonomicon

Titel: Cryptonomicon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Wie in vielen anderen unerwarteten Situationen kam ihm auch hier seine außerordentliche Erfahrung im Fantasie-Rollenspiel zugute, denn während er sich verschiedene epische Szenarien ausgedacht hatte, war er in das Bewusstsein, wenn nicht sogar in den Körper so mancher Figur geschlüpft, der Gliedmaßen fehlten oder die durch den feurigen Atem eines Drachens oder den Feuerball eines Zauberers zu einem algorithmisch bestimmten Prozentsatz verbrannt war, und es gehörte zu den ethischen Grundsätzen des Spiels, dass man sich richtig in ein Leben mit solchen Behinderungen hineindachte und seine Figur entsprechend spielte. Gemessen daran war das ständige Gefühl, eine automatische Spannvorrichtung im Schädel zu haben, die alle paar Monate den Druck um eine Umdrehung erhöhte, nicht mal der Rede wert. Es verlor sich im somatischen Rauschen.
    So lebte Randy einige Jahre, während er und Charlene auf der sozioökonomischen Leiter unmerklich nach oben kletterten und anfingen, sich auf Partys wiederzufinden, zu denen viele Gäste in ihrem Mercedes-Benz kamen. Just auf einer solchen Party hörte Randy zufällig, wie ein Zahnarzt sich in den höchsten Tönen über einen brillanten jungen Kieferchirurgen ausließ, der gerade erst in die Gegend gezogen war. Randy musste sich auf die Zunge beißen, um nicht sofort alle möglichen Fragen darüber zu stellen, was »brillant« in einem kieferchirurgischen Zusammenhang bedeutete – Fragen, die auf reiner Neugier beruhten, die der Zahnarzt aber durchaus in den falschen Hals bekommen könnte. Unter Codierern war ziemlich offensichtlich, wer brillant war und wer nicht, aber wie konnte man einen brillanten Kieferchirurgen von einem lediglich exzellenten unterscheiden? Schon steckte er mitten in der erkenntnistheoretischen Kacke. Jede Vierergruppe Weisheitszähne konnte nur einmal gezogen werden. Man konnte nicht hundert Kieferchirurgen ein und dieselbe Gruppe Weisheitszähne ziehen lassen und die Ergebnisse dann wissenschaftlich vergleichen. Und dennoch besagte das Mienenspiel des Zahnarztes ganz klar, dass dieser spezielle Kieferchirurg, dieser Neue, brillant war. Deshalb machte sich Randy später an den Zahnarzt heran und meinte, er habe vielleicht eine echte Aufgabe für den Typen – er selbst verkörpere womöglich eine solche Aufgabe -, die diese unbeschreibliche Qualität kieferchirurgischer Brillanz zum Tragen bringen würde, und ob er wohl den Namen des Mannes erfahren könne.
    Ein paar Tage später sprach er mit dem Kieferchirurgen, der tatsächlich jung und auffallend heiter war und mehr mit anderen brillanten Leuten aus Randys Bekanntschaft – zumeist Hackern – als mit anderen Kieferchirurgen gemein hatte. Er fuhr einen Pick-up und hatte aktuelle Ausgaben des TURING Magazine in seinem Wartezimmer ausliegen. Er hatte einen Bart und einen Stab von Zahnarzt- und anderen Helferinnen, die alle ständig von seiner Brillanz schwärmten, um ihn herumwuselten, ihn um größere Hindernisse bugsierten und ans Mittagessen erinnerten. Dieser Mann erblasste nicht, als er Randys Mercator-Röntgenogramm auf seinem Leuchtschirm sah. Er hob lediglich das Kinn von der Hand, richtete sich ein wenig auf und sagte mehrere Minuten lang keinen Ton. Von Zeit zu Zeit bewegte er fast unmerklich den Kopf, während er kritische Anmerkungen über die unterschiedlichen Ecken der Koordinatenebene machte und die ausgesprochen groteske Lage jedes einzelnen Weisheitszahns bewunderte – mitsamt seinem paläolithischen Gewicht und seinen langen knorrigen Wurzeln, die sich in bisher auf keiner anatomischen Karte verzeichneten Gegenden des Kopfes verloren.
    Als er sich schließlich zu Randy umdrehte, hatte er so etwas wie die Aura eines Priesters, eine Art heiliger Ekstase, das Gefühl, die kosmische Symmetrie habe sich offenbart, so als seien Randys Kiefer und sein brillantes Kieferchirurgengehirn vor fünfzehn Milliarden Jahren vom Architekten des Universums eigens dazu geschnitzt worden, hier und jetzt vor diesem Leuchtschirm aufeinander zu treffen. Er machte keine Bemerkung wie »Randy, ich möchte Ihnen gerne zeigen, wie nah die Wurzeln dieses einen Zahns bei dem Nervenbündel liegen, das Sie von einem Krallenaffen unterscheidet«, oder »Mein Terminplan ist unglaublich voll und ich spiele sowieso mit dem Gedanken, ins Immobiliengeschäft zu wechseln«, oder »Einen Augenblick, ich muss erst meinen Anwalt anrufen«. Er sagte nicht einmal etwas wie »Mann, diese Dinger sitzen vielleicht tief!« Der

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