Cryptonomicon
diese Findlingsblöcke aus lebendem Schmelz nun völlig überflüssig. Man denke bloß an das zusätzliche Gewicht, das er die ganze Zeit mit sich herumgeschleppt hatte. Und daran, wie man diesen überaus wertvollen Grund und Boden im Kopf hätte sinnvoll nutzen können. Was würde die vier riesigen mahlzahnförmigen Lücken in seiner Melone füllen, wenn sie erst einmal weg wären? Das war allerdings eine rein akademische Frage, solange er niemanden gefunden hatte, der sie ihm entfernte. Doch ein Kieferchirurg nach dem anderen schickte ihn wieder weg. Sie nahmen die Röntgenaufnahme, steckten sie an ihre Leuchtschirme, schauten sie an und erblassten. Vielleicht lag es auch nur an dem fahlen Licht, das diese Schirme verströmten, aber Randy hätte schwören können, dass sie blass wurden. Nicht eben aufrichtig – als wüchsen Weisheitszähne normalerweise ganz woanders – betonten sie alle, dass Randys Weisheitszähne tief, tief, tief in seinem Kopf verankert seien. Die unteren säßen so weit hinten in seinem Kiefer, dass man praktisch den Kieferknochen entzweibräche, wenn man sie entfernte; und dann würde eine falsche Bewegung einen Knochenmeißel aus Chirurgenstahl in sein Mittelohr treiben. Die oberen säßen so tief in seinem Schädel, dass ihre Wurzeln sich um die Teile seines Gehirns gewunden hätten, die für die Wahrnehmung der Farbe Blau (auf einer Seite) und die Fähigkeit, seine Skepsis gegenüber schlechten Filmen zeitweise außer Kraft zu setzen (auf der anderen) zuständig seien, und zwischen diesen Zähnen und Luft, Licht und Spucke lägen viele Schichten aus Haut, Fleisch, Knorpel, dicken Nervensträngen, das Gehirn versorgenden Arterien, geschwollenen Lymphknoten, Knochenbalken und -trägern, gesundem Knochenmark, das seine Aufgabe bestens erfülle, danke der Nachfrage, ein paar Drüsen, deren Funktionen noch beunruhigend wenig erforscht seien, und vielen anderen Dingen, die aus Randy Randy machten, und alle fielen definitiv in die Kategorie schlafende Hunde.
Kieferchirurgen gruben sich, wie es schien, nicht gerne mehr als ellbogentief in den Kopf eines Patienten hinein. Lange bevor sich der bedauernswerte Randy mit seiner entsetzlichen Röntgenaufnahme in ihre Praxen geschleppt hatte, hatten sie schon in großen Häusern gewohnt und waren in Mercedes-Benz-Limousinen zur Arbeit gefahren, das heißt, sie hatten absolut nichts zu gewinnen, wenn sie auch nur versuchten, diese, nun ja, weniger Weisheitszähne im herkömmlichen Sinne als vielmehr apokalyptischen Vorzeichen aus dem Buch der Offenbarung zu ziehen. Das beste Mittel, diese Zähne zu entfernen, war die Guillotine. Keiner dieser Kieferchirurgen zog die Extraktion auch nur in Betracht, bevor Randy nicht eine Haftungsausschlusserklärung unterschrieben hatte, die zu dick zum Heften war, ein Ding, das fast in ein Ringbuch gehörte und darauf hinauslief, dass eine der normalen Folgen der Prozedur darin bestand, dass der Kopf des Patienten am Ende als Touristenattraktion in einem Ort gleich hinter der mexikanischen Grenze in einem Krug mit Formaldehyd schwamm. Auf diese Art wanderte Randy ein paar Wochen lang von einer Kieferchirurgiepraxis zur anderen, wie ein teratomatöser Ausgestoßener, der ein postnukleares Ödland durchstreift und von den Ziegelbrocken armer ängstlicher Bauern aus einem Dorf nach dem anderen vertrieben wird. Bis er eines Tages in eine Praxis kam und die Zahnarzthelferin am Empfang ihn fast zu erwarten schien und ihn zu einer privaten Unterredung mit dem Kieferchirurgen, der in einem seiner kleinen Behandlungszimmer eifrig damit beschäftigt war, eine Menge Knochenstaub in die Luft zu blasen, nach hinten in einen Untersuchungsraum führte. Die Zahnarzthelferin ließ ihn Platz nehmen, bot ihm Kaffee an, schaltete den Leuchtschirm ein, nahm Randys Röntgenaufnahmen und steckte sie daran fest. Dann trat sie einen Schritt zurück, verschränkte die Arme und schaute die Bilder verwundert an. »So so«, murmelte sie, »das sind also die berühmten Weisheitszähne!«
Das war der letzte Kieferchirurg, den Randy für die nächsten paar Jahre aufsuchte. Er hatte noch immer den unaufhörlichen 24-Jam-Druck im Kopf, aber seine Einstellung dazu hatte sich jetzt geändert; statt ihn als eine leicht zu behebende Anomalie seines Gesundheitszustands zu betrachten, sah er ihn jetzt als sein persönliches Kreuz, das er zu tragen hatte, das aber, verglichen mit dem, woran andere Leute zu leiden hatten, wirklich gar nicht so schlimm war.
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