Cryptonomicon
enthielte. Vielleicht würde man eine zufällig gewählte Sequenz von zehn Buchstaben herausgreifen und sagen: »Nehmen wir an, das stünde für HEIL HITLER. Was würde das, falls es zutrifft, für den Rest des Textes bedeuten?«
Randy erwartet nicht, irgendwelche HEIL HITLERs in den Arethusa-Funksprüchen zu finden, aber es könnte andere voraussagbare Wörter geben. Im Kopf hat er bereits eine Liste von Schlüsselwörtern erstellt: MANILA, bestimmt. WATERHOUSE, vielleicht. Und jetzt denkt er auch an GOLD und SILBERBARREN. Im Fall von MANILA könnte er sich also jede Sechsbuchstabenfolge aus den Funksprüchen ausssuchen und sagen: »Was ist, wenn diese Buchstaben die verschlüsselte Version von MANILA sind?« und von da aus weiterarbeiten. Hätte er es mit einem nur sechs Buchstaben langen Funkspruch zu tun, gäbe es nur ein solches Sechsbuchstabensegment zur Auswahl. Eine sieben Buchstaben lange Nachricht böte ihm zwei Möglichkeiten: Es könnten die ersten sechs oder die letzten sechs Buchstaben sein. Das Fazit daraus lautet, dass bei einem n Buchstaben langen Funkspruch die Zahl der Sechsbuchstabensegmente gleich ( n – 5) ist. Im Fall einer 105 Buchstaben langen Nachricht ergeben sich 100 verschiedene mögliche Plätze für das Wort MANILA. Genau genommen einhunderteins: natürlich ist es auch möglich – ja sogar wahrscheinlich – dass MANILA überhaupt nicht darin vorkommt. Aber jede dieser 100 Vermutungen hat ihre eigenen Weiterungen in Bezug auf die anderen Buchstaben in der Nachricht. Wie diese Weiterungen jeweils aussehen, hängt davon ab, welche Annahmen Randy hinsichtlich des zugrunde liegenden Algorithmus macht.
Was das betrifft: Je mehr er darüber nachdenkt, desto sicherer ist er, dass er durchaus einiges hat, womit er arbeiten kann – dank Enoch, der ihn (im Nachhinein betrachtet) mit ein paar nützlichen Hinweisen gefüttert hat, wenn er ihn nicht gerade durch die Gitterstäbe mit der Familiengeschichte der Götter voll stopfte. Enoch hat erwähnt, dass die NSA, als sie mit ihrem Angriff auf das begann, was sich später als die gefälschten Arethusa-Funksprüche herausstellen sollte, davon ausging, dass sie irgendwie mit einem anderen Kryptosystem namens Azure zusammenhingen. Tatsächlich erfährt Randy aus dem Cryptonomicon , dass Azure ein sonderbares, von Japanern wie Deutschen verwendetes System war, das mithilfe eines mathematischen Algorithmus jeden Tag einen anderen Einmalblock erzeugte. Das ist schrecklich vage, hilft Randy aber, eine ganze Menge auszuschließen. Er weiß zum Beispiel, dass Arethusa keine Rotormaschine wie die Enigma ist. Und er weiß, dass, wenn er zwei Nachrichten finden kann, die am selben Tag verschickt wurden, beide vermutlich auf demselben Einmalblock beruhen.
Was für ein mathematischer Algorithmus wurde hier benutzt? Der Inhalt von Großvaters Schrankkoffer liefert Hinweise darauf. Er erinnert sich an das Foto von Großvater mit Turing und von Hacklheber in Princeton, wo alle drei offensichtlich mit Zetafunktionen herumgespielt haben. Außerdem befanden sich in dem Schrankkoffer mehrere Monographien zum selben Thema. Und das Cryptonomicon stellt fest, dass Zetafunktionen in der Kryptographie noch heute als Zahlenfolgengeneratoren Verwendung finden – das heißt, als Vorrichtungen zum Ausspucken von Pseudozufallszahlen, was genau einem Einmalblock entspricht. Alles deutet darauf hin, dass Azure und Arethusa Geschwister und beide Ausführungen der Zetafunktion sind.
Was ihm jetzt besonders fehlt, sind Bücher über die Zetafunktion; leider liegen sie nicht gerade in seiner Gefängniszelle herum. Der Inhalt von Großvaters Schrankkoffer wäre ihm da eine riesige Hilfe – aber der lagert zur Zeit in einem Raum in Chesters Haus. Andererseits ist Chester reich und möchte sich gerne nützlich machen.
Randy ruft einen Wärter und verlangt Rechtsanwalt Alejandro zu sehen. Enoch Root wird für ein paar Augenblicke ganz still, um dann sofort wieder in den ungestörten Tiefschlaf eines Mannes zu fallen, der genau da ist, wo er sein will.
Sklaven
Menschen verbreiten alle möglichen Gerüche, bevor sie verbrannt sind, doch danach nur noch einen. Während die Jungs von der Army Waterhouse in die Dunkelheit hinunterführen, schnuppert dieser vorsichtig und hofft, dass ihm dieser Geruch erspart bleibt.
Im Wesentlichen riecht es nach Öl, Diesel, heißem Stahl, dem Schwefelgestank von verbranntem Gummi und explodierter Munition. Diese Gerüche sind überwältigend
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