Cryptonomicon
Ares-Jünger nicht am Ende die ganze Welt beherrschen sollen, wird irgendjemand mit Gewalt gegen sie vorgehen müssen. Das ist nicht sehr schön, aber es ist eine Tatsache: Die Zivilisation braucht eine Aegis. Und das Einzige, was diese Schweine zu besiegen vermag, ist Intelligenz. Schlauheit. Metis .«
»Taktische List, wie bei Odysseus mit dem trojanischen Pferd, oder -«
»Sowohl List als auch technologisches Geschick. Von Zeit zu Zeit werden Schlachten ganz und gar durch den Einsatz neuer Technologien gewonnen – wie den der Langbögen bei Crecy. Solche Schlachten ereignen sich im Lauf der Geschichte meistens nur alle paar Jahrhunderte – beim Auftauchen von Streitwagen, Compoundbögen, Schießpulver, Panzerschiffen und so weiter. Aber irgendetwas passiert, sagen wir mal, um die Zeit herum, als die Monitor , die die Nordstaatler für das einzige Panzerschiff der Welt halten, und die Merrimack , von der die Südstaatler genau dasselbe annehmen, zufällig aufeinander stoßen und sich für Stunden gegenseitig unter Dauerbeschuss nehmen. Dieses Beispiel zeigt so gut wie kaum ein anderes den Moment, in dem die Militärtechnologie einen spektakulären Sprung macht – das ist die Krümmung der Exponentialkurve. Nun brauchen die im Wesentlichen konservativen Militärapparate der Welt ein paar Jahrzehnte, um wirklich zu begreifen, was passiert ist, aber spätestens als wir mitten im Zweiten Weltkrieg stecken, hat jeder, der nicht total bescheuert ist, begriffen, dass die Seite den Krieg gewinnen wird, die über die beste Technologie verfügt. Raketen, Düsenflugzeuge, Nervengas und kabelgeführte Fernlenkgeschosse gibt es nur bei den Deutschen. Auf Seiten der Alliierten haben wir drei gewaltige Leistungen, die hauptsächlich auf die Arbeit hervorragender Hacker, Computer- und Technologiefreaks zurückzuführen sind: das Entschlüsselungsding, an dessen Ende, wie Sie wissen, der Digitalcomputer stand; das Manhattan Project, dem wir die Atomwaffe zu verdanken haben; und das Radiation Lab, das die moderne Elektronikindustrie begründet hat. Wissen Sie, warum wir den Zweiten Weltkrieg gewonnen haben, Randy?«
»Ich vermute, das haben Sie mir gerade erzählt.«
»Weil wir bessere Sachen gebaut haben als die Deutschen?«
»Haben Sie das nicht selbst gesagt?«
»Aber warum haben wir bessere Sachen gebaut, Randy?«
»Ich glaube, um das zu beantworten, bin ich nicht kompetent genug, Enoch, ich weiß zu wenig über diese Zeit.«
»Nun, die kurze Antwort lautet, dass wir gewonnen haben, weil die Deutschen Ares verehrt haben und wir Athene.«
»Und muss ich nun annehmen, dass Sie oder Ihre Organisation mit alldem etwas zu tun hatten?«
»Jetzt machen Sie aber einen Punkt, Randy! In Verschwörungstheorien sollte das eigentlich nicht abgleiten.«
»Tut mir Leid. Ich bin müde.«
»Ich auch. Gute Nacht.«
Und dann schläft Enoch ein. Einfach so.
Randy nicht.
Ans Cryptonomicon !
Randy bereitet einen Bekannter-Schlüsseltext-Angriff vor: die schwerste Variante. Er hat den Schlüsseltext (die Arethusa-Funksprüche) und nichts anderes. Er kennt nicht einmal den Algorithmus, mit dem sie verschlüsselt wurden. In der modernen Kryptoanalyse ist das ungewöhnlich; normalerweise sind die Algorithmen öffentlich bekannt. Das liegt daran, dass Algorithmen, die öffentlich diskutiert und innerhalb der akademischen Fachwelt angegriffen worden sind, in der Regel viel stärker sind als solche, die geheim gehalten wurden. Leute, die auf die Geheimhaltung ihrer Algorithmen vertrauen, sind erledigt, sobald dieses Geheimnis gelüftet wird. Doch Arethusa stammt aus dem Zweiten Weltkrieg, als man in solchen Dingen noch nicht so gewieft war.
Das alles wäre tausendmal einfacher, wenn Randy wenigstens etwas von dem Klartext kennen würde, der in diesen Botschaften verschlüsselt ist. Würde er ihn vollständig kennen, bräuchte er ihn natürlich gar nicht mehr zu entschlüsseln; Arethusa zu knacken wäre in diesem Fall eine rein akademische Übung.
Zwischen den beiden Extremen, den Klartext entweder ganz oder überhaupt nicht zu kennen, gibt es noch einen Zwischenweg. Im Cryptonomicon fällt er unter die Rubrik Schlüsselwörter . Das sind wohl begründete Vermutungen darüber, welche Wörter oder Ausdrücke in der Nachricht vorkommen. Wenn man zum Beispiel Nachrichten der Deutschen aus dem Zweiten Weltkrieg entschlüsselte, würde man vielleicht vermuten, dass der Klartext den Ausdruck »HEIL HITLER« oder »SIEG HEIL«
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