Cryptonomicon
im Grunde nur die Alternative hatten, in Schmach und Schande nach Hause zurückzukehren oder die Musikszene ihrer Phantasie selbst zu erfinden. Das führte zur Gründung einer Vielzahl kleiner Clubs und Bands, die in keinerlei wie immer gearteter, authentischer Realität verwurzelt waren, sondern lediglich die Träume und Sehnsüchte panglobaler Heranwachsender widerspiegelten, die allesamt auf der gleichen Jagd nach einer Chimäre nach Seattle geströmt waren. Diese Szene der zweiten Welle musste einiges an Beschimpfungen von Seiten derjenigen der ursprünglichen zwei Dutzend Leute einstecken, die noch nicht an einer Überdosis gestorben waren oder Selbstmord begangen hatten. Es kam zu einer Art Gegenreaktion; dann, ungefähr sechsunddreißig Stunden, nachdem die Gegenreaktion ihre höchste Intensität erreicht hatte, kam es zu einer Gegen-Gegenreaktion von Seiten junger Einwanderer, die ihr Recht auf eine einzigartige kulturelle Identität als Menschen geltend machten, die naiverweise nach Seattle gekommen waren und festgestellt hatten, dass es dort kein Dort gab und dass sie es selbst würden schaffen müssen. Angetrieben von dieser Überzeugung, von ihrer jugendlichen libidinösen Energie und von ein paar Kulturjournalisten, die das ganze Szenario hinreißend postmodern fanden, gründeten sie eine ganze Menge Bands der zweiten Generation und sogar ein paar Schallplatten-Labels, von denen Hammerdown Systems das Einzige ist, das nicht binnen sechs Monaten Pleite gegangen oder von einem großen Label mit Sitz in L.A. oder New York geschluckt worden war.
Und so hat Chester beschlossen, Randy mit diesen neuesten Hammerdown-Erzeugnissen zu beglücken, auf die er sehr stolz ist. Eigenartigerweise stammen sie alle von Bands, die gar nicht in Seattle, sondern in kleinen, unerschwinglich hippen College-Städten in North Carolina und der Upper Peninsula von Michigan beheimatet sind. Doch Randy findet auch eine von einer offensichtlich aus Seattle stammenden Band mit Namen Shekondar. Offensichtlich, weil die Rückseite der CD ein verschwommenes Foto von mehreren Band-Mitgliedern ziert, die latte aus Halbliter-Tassen mit dem Logo einer Kette von Kaffeebars trinken, die, so viel Randy weiß, noch nicht die Stadtgrenzen von Seattle gesprengt hat, um nach der mittlerweile ermüdend vorhersagbaren Art von Firmen mit Sitz in Seattle weltweit alles zu zermalmen, was sich ihr in den Weg stellt. Nun war Shekondar zufällig der Name einer besonders üblen Unterwelt-Gottheit, die eine wichtige Rolle in einigen der Spiel-Szenarios innehatte, mit denen Randy, Avi, Chester und die anderen sich in der alten Zeit beschäftigten. Randy klappt die CD-Hülle auf und sieht sofort, dass die CD den Goldschimmer einer Master, nicht das Silber einer bloßen Kopie zeigt. Randy schiebt sie in seinen Discman, drückt die Play-Taste und bekommt ein ganz passables Post-Cobain-mortem-Material zu hören, das genetisch so manipuliert worden ist, dass es nichts mit dem gemein hat, was man herkömmlicherweise unter dem Seattle-Sound versteht, und insofern absolut typisch für das Seattle du jour ist. Er springt ein paar Aufnahmen vorwärts und reißt sich dann fluchend die Kopfhörer von den Ohren, als der Discman versucht, einen Strom rein digitaler Informationen, der etwas anderes als Musik darstellt, in Klang zu übersetzen. Das fühlt sich ein wenig so an, als würden ihm Nadeln aus Trockeneis in die Trommelfelle gestoßen.
Randy schiebt die goldene Scheibe in das in seinen Laptop eingebaute CD-Laufwerk und sieht sie sich an. Sie enthält tatsächlich ein paar Audio-Spuren, doch der größte Teil ihrer Kapazität wird von Computer-Dateien beansprucht. Es gibt mehrere Inhaltsverzeichnisse oder Ordner, die jeweils nach einem der Dokumente im Schrankkoffer seines Großvaters benannt sind. Innerhalb jedes Directorys findet sich eine lange Liste mit Dateien namens PAGE.001.jpeg, PAGE.002.jpeg und so weiter. Randy beginnt, sie zu öffnen, benutzt dabei dieselbe Net-browser-Software, mit der er auch das Cryptonomicon gelesen hat, und stellt fest, dass es allesamt eingescannte Bild-Dateien sind. Offensichtlich hat Chester die Dokumente von einer Schar Lakaien entheften und Seite für Seite durch einen Scanner jagen lassen. Gleichzeitig muss er irgendwelche Graphiker, vermutlich Leute, die er über Hammerdown Systems kannte, beauftragt haben, auf die Schnelle dieses falsche Shekondar-Platten-Cover zusammenzudoktern. Es ist sogar ein Insert dabei, Fotos von
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