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Cryptonomicon

Cryptonomicon

Titel: Cryptonomicon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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aber Randy spürt unmittelbar hinter der nächstgelegenen Tür zahlreiche Berater, Leibwächter, Anwälte und Furien oder Harpyien oder was auch immer. Der Dentist wirkt leicht belustigt, aber Randy kommt allmählich dahinter, dass es ihm in Wirklichkeit ganz ernst ist. Die Oberlippe des Dentisten ist dauerhaft gewölbt oder kürzer, als sie sein dürfte, oder beides, mit dem Ergebnis, dass seine gletscherweißen Schneidezähne stets leicht bloßliegen und er, je nachdem wie das Licht auf sein Gesicht fällt, entweder etwas von einem Biber hat oder so aussieht, als versuche er nicht sehr erfolgreich, ein Feixen zu unterdrücken. Selbst ein so sanftmütiger Mensch wie Randy kann ein solches Gesicht nicht ansehen, ohne auf den Gedanken zu kommen, wie viel besser es aussähe, wenn man eine Faust hineinpflanzte. Aus der Vollkommenheit von Hubert Keplers Gebiss lässt sich schließen, dass er eine behütete Kindheit gehabt hat (Full-Time-Bodyguards, sobald die zweiten Zähne herauskamen) oder dass seine Berufswahl sich einem sehr persönlichen Interesse an wiederherstellender Kiefernchirurgie verdankt. »Und ich weiß, dass Sie mir wahrscheinlich nicht glauben werden. Aber ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass ich mit dem, was auf dem Flughafen passiert ist, nichts zu tun habe.«
    Nun hält der Dentist – keineswegs einer jener Leute, die das Bedürfnis verspüren, Gesprächspausen hektisch zu überbrücken – inne und betrachtet Randy eine Weile. Und so kommt Randy während des nun folgenden längeren Schweigens dahinter, dass der Dentist überhaupt nicht grinst, sondern sein Gesicht sich schlicht und einfach in seinem natürlichen Ruhezustand befindet. Er schaudert ein wenig bei dem Gedanken, wie es wohl sein muss, diesen abwechselnd biberähnlichen und grinsenden Ausdruck niemals ablegen zu können. Dass einen die Liebste im Schlaf betrachtet und das zu sehen bekommt. Allerdings hat Victoria Vigo, wenn man den Geschichten Glauben schenken darf, ihre eigenen Methoden, Vergeltung zu üben, und so muss Hubert Kepler ja vielleicht tatsächlich die Beschimpfungen und Demütigungen hinnehmen, nach denen sein Gesicht zu verlangen scheint. Randy seufzt bei diesem Gedanken leise, denn er spürt darin die plötzlich zutage tretende Spur einer kosmischen Symmetrie.
    Kepler hat jedenfalls Recht, wenn er sagt, dass Randy nicht geneigt ist, ihm auch nur ein einziges Wort abzunehmen. Kepler kann nur dadurch Glaubwürdigkeit gewinnen, dass er sich persönlich hier im Gefängnis einfindet und die Worte von Angesicht zu Angesicht äußert: In Anbetracht all dessen, was er in diesem Augenblick zum Spaß oder um des Profits willen oder aus beiden Gründen tun könnte, verleiht seine Anwesenheit dem, was er sagt, eine Menge Gewicht. Es versteht sich, dass der Dentist, wenn er Randy nach Strich und Faden belügen wollte, seine Anwälte vorbeischicken und das von ihnen erledigen lassen oder ihm einfach ein Telegramm schicken könnte. Also sagt er entweder die Wahrheit oder aber er lügt und es liegt ihm sehr viel daran, dass Randy ihm seine Lügen abnimmt. Randy kommt nicht dahinter, warum es dem Dentisten nicht scheißegal sein sollte, ob er, Randy, ihm seine Lügen glaubt oder nicht, und das wiederum legt die Vermutung nahe, dass der andere vielleicht doch die Wahrheit sagt.
    »Wer hat mich dann reingelegt?«, fragt Randy, in gewisser Weise rhetorisch. Er war gerade mitten in einer ziemlich coolen Codierungsarbeit in C++, als man ihn aus seiner Zelle zu diesem Überraschungstreffen mit dem Dentisten schleppte, und er wundert sich selbst darüber, wie sehr ihn das Ganze anödet und irritiert. Er ist, mit anderen Worten, in reines Computergefrickel der tierischsten Sorte zurückgefallen, wie er es nur aus seiner Frühzeit als Spiele-Programmierer in Seattle kennt. Die schiere Tiefe und Kompliziertheit der derzeitigen Frickelorgie ließe sich nur schwer jemandem vermitteln. Geistig jongliert er mit einem halben Dutzend brennender Fackeln, Ming-Vasen, lebendigen Welpen und laufenden Kettensägen. In diesem Geisteszustand kümmert es ihn einfach herzlich wenig, dass dieser unglaublich mächtige Milliardär sich sehr viel Umstände gemacht hat, um hierher kommen und unter vier Augen mit ihm reden zu können. Und so ist die eben gestellte Frage nichts weiter als eine flüchtige Geste, deren Subtext besagt: Ich wünschte, Sie würden gehen, aber minimale Normen gesellschaftlichen Anstands gebieten, dass ich etwas sage. Der Dentist, in Sachen

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