Cryptonomicon
Rudi«, sagt er, »wir müssen zusehen, dass du Vitamin C kriegst.«
GOTO-SAMA
Avi erwartet Randy in der Eingangshalle des Hotels. Er trägt eine altmodische Aktentasche, die seine schlanke Gestalt nach einer Seite zieht und ihr die asymptotische Gekrümmtheit eines jungen Baums in stetigem Wind verleiht. Er und Randy nehmen ein Taxi in Irgendeinen Anderen Teil von Tokio – Randy hat nicht einmal ansatzweise erfasst, wie die Stadt angelegt ist -, betreten einen Wolkenkratzer und fahren mit einem Aufzug so weit hinauf, dass es Randy in den Ohren knackt. Als die Türen aufgleiten, steht ein Oberkellner vor ihnen, der sie mit einer Verbeugung begrüßt. Er führt sie in ein Foyer, wo vier Männer warten: zwei jüngere Lakaien, Goto Furudenendu und ein älterer Herr. Randy hat mit einem jener grazilen, durchscheinenden japanischen Senioren gerechnet, doch Goto Dengo ist ein gedrungener Bursche mit weißem Bürstenschnitt, vom Alter etwas gebeugt und eingesunken, was ihn aber nur noch kompakter und stämmiger erscheinen lässt. Auf den ersten Blick wirkt er nicht wie ein Manager, sondern eher wie ein Dorfschmied im Ruhestand oder vielleicht wie ein Feldwebel in der Armee eines Daimio, doch wird dieser Eindruck binnen fünf bis zehn Sekunden von einem guten Anzug, guten Manieren und Randys Kenntnis dessen, um wen es sich handelt, zunichte gemacht. Er ist der Einzige hier, der nicht bis über beide Ohren grinst: Wenn man ein bestimmtes Alter erreicht, wird es einem offenbar nachgesehen, dass man anderen Leuten Tunnel durch den Schädel starrt. Nach Art vieler alter Menschen wirkt er leicht verblüfft darüber, dass sie tatsächlich erschienen sind.
Trotzdem stemmt er sich mithilfe eines großen, knorrigen Stocks in die Höhe und drückt ihnen fest die Hand. Sein Sohn Furudenendu bietet ihm die Hand, um ihm aufzuhelfen, und er schüttelt sie mit einem gespielt entrüsteten Blick ab – dieses Ritual macht einen gut geprobten Eindruck. Es folgt ein kurzer Austausch von Smalltalk, der über Randys Horizont geht. Dann drehen die beiden Lakaien ab wie nicht mehr benötigte Sekundanten eines Boxers, und der Oberkellner führt Randy, Avi und Goto père et fils durch ein völlig leeres Restaurant – zwanzig bis dreißig Tische, gedeckt mit weißem Leinen und Kristall – zu einem Ecktisch, wo Kellner in Habachtstellung stehen, um ihnen die Stühle zurückzuziehen. Das Gebäude gehört zur architektonischen Glatte-Wände-aus-solidem-Glas-Schule, sodass die Fenster vom Boden bis zur Decke reichen und durch einen Perlenvorhang aus Regentropfen hindurch einen Blick auf das nächtliche Tokio bieten, das sich über den Horizont hinaus erstreckt. Es werden Speisekarten verteilt, die nur auf Französisch gedruckt sind. Randy und Avi bekommen die Damenkarte, ohne Preise. Goto Dengo bekommt die Weinkarte und brütet gute zehn Minuten lang darüber, ehe er sich widerwillig für einen kalifornischen Weißwein und einen roten Burgunder entscheidet. Unterdessen zieht Furudenendu sie in ein äußerst angenehmes Gespräch über die Krypta.
Randy muss immerzu Tokio auf der einen und das leere Restaurant auf der anderen Seite ansehen. Es ist, als wäre dieser Rahmen eigens gewählt worden, um sie daran zu erinnern, dass es mit der japanischen Wirtschaft seit mehreren Jahren bergab geht – eine Situation, die sich durch die asiatische Währungskrise nur noch verschlimmert hat. Fast rechnet er damit, Manager am Fenster vorbeifallen zu sehen.
Avi wagt es, sich nach verschiedenen Tunneln und anderen ungeheuer weitläufigen Bauprojekten zu erkundigen, die ihm in Tokio aufgefallen seien, und ob Goto Engineering etwas mit ihnen zu tun habe. Das veranlasst den Patriarchen immerhin, kurz von der Weinkarte aufzublicken, doch Anfragen beantwortet der Sohn, der einräumt, dass die Firma in der Tat eine kleine Rolle bei diesen Unternehmungen spiele. Randy vermutet, dass es nicht unbedingt die leichteste Übung der Welt ist, einen engen Freund des verstorbenen General of the Army Douglas MacArthur in höfliches Geplauder zu verwickeln; schließlich ist es nicht so, dass man ihn fragen kann, ob er die letzte Folge von Raumschiff Enterprise: Noch mehr Raum-Zeit-Anomalien gesehen hat. Eigentlich können sie sich nur an Furudenendu halten und ihm die Führung überlassen. Goto Dengo räuspert sich mit einem Grollen, als würde der Motor einer größeren Erdbaumaschine anspringen, und empfiehlt das Kobe-Rindfleisch. Der Sommelier kommt mit den Weinen und Goto
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