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Cryptonomicon

Cryptonomicon

Titel: Cryptonomicon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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sieht er eine Frau mittleren Alters, die über irgendeine unmöglich komplexe Beziehungskette mit Glory verwandt ist und bereits deren Lippenstiftspuren auf der Wange trägt, mit Kollisionskurs auf ihn zuhalten, wild entschlossen, ihn zu küssen. Er weiß, dass er sich schleunigst verdrücken muss, oder er wird nie wieder hier wegkommen. Und so ignoriert er die Frau, hält den Blick der völlig überwältigten Jungen fest, nimmt Habachtstellung ein und grüßt zackig.
    Die Jungen erwidern den Gruß, zwar stümperhaft, aber mit ungeheurem Draufgängertum. Bobby Shaftoe macht auf dem Absatz kehrt und marschiert so gerade wie ein Bajonettstoß zum Zimmer hinaus. Er hat vor, am nächsten Tag, wenn sich alles etwas beruhigt hat, wieder nach Malate zu kommen und nach Glory und den anderen Altamiras zu sehen.
    Er sieht sie nicht wieder.
    Er meldet sich auf seinem Schiff zurück und bekommt keinen Landurlaub mehr. Er schafft es allerdings noch, ein Gespräch mit Onkel Jack zu führen, der in einem kleinen Motorboot längsseits kommt, sodass sie sich gegenseitig ein paar Sätze zubrüllen können. Onkel Jack ist der Letzte der Manila-Shaftoes, eines Familienzweigs, den Nimrod Shaftoe von den Tennessee Volunteers begründet hat. Nimrod kriegte dank einiger aufständischer philippinischer Schützen irgendwo in der Gegend von Quingua eine Kugel in den rechten Arm. Während seiner Genesung in einem Krankenhaus in Manila kam der alte Nimrod oder »Lefty«, wie er zu diesem Zeitpunkt getauft wurde, zu dem Schluss, dass ihm der Schneid dieser Filipinos gefiel, die zu töten eine ganz neue Kategorie von lächerlich großkalibriger Handfeuerwaffe (die 45er Colt-Pistole) erfunden werden musste. Außerdem gefiel ihm das Aussehen ihrer Frauen. Umgehend aus der Armee entlassen, stellte er fest, dass die volle Invalidenrente in der einheimischen Ökomonie sehr lange reichen würde. Er gründete am Ufer des Pasig ein Exportgeschäft, heiratete eine Halbspanierin und zeugte einen Sohn (Jack) und zwei Töchter. Die Töchter landeten in den Staaten, in den Bergen von Tennessee, dem Urquell aller Shaftoes, seit sie Anfang des achtzehnten Jahrhunderts aus der Knechtschaft der Kontraktarbeit ausgebrochen waren. Jack blieb in Manila und erbte Nimrods Geschäft, heiratete jedoch nie. Nach den hier geltenden Maßstäben verdient er anständig Geld. Er ist seit jeher eine merkwürdige Kombination aus zünftigem Hafenhändler und parfümiertem Dandy. Er und Mr. Pascual machen schon ewig Geschäfte miteinander: Über ihn kennt Bobby Mr. Pascual und über ihn hat er auch Glory kennen gelernt.
    Als Bobby Shaftoe die neuesten Gerüchte wiedergibt, macht Onkel Jack ein entgeistertes Gesicht. Niemand hier ist bereit, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass dem Land eine Belagerung durch die Nips bevorsteht. Eigentlich müssten Onkel Jacks nächste Worte lauten: »Scheiße, dann mache ich, dass ich hier wegkomme, ich schicke dir eine Postkarte aus Australien.« Stattdessen sagt er so etwas wie: »Ich komme in ein paar Tagen noch mal vorbei, um nach dir zu sehen.«
    Bobby Shaftoe beißt sich auf die Zunge und sagt nicht, was er denkt, nämlich dass er ein Marine ist, dass er sich auf einem Schiff befindet, dass Krieg herrscht und dass Marines auf Schiffen in Kriegen nicht dafür bekannt sind, dass sie lange an Ort und Stelle bleiben. Er steht einfach da und sieht zu, wie Onkel Jack auf seinem kleinen Boot davontuckert und sich dabei immer wieder umdreht, um ihm mit seinem schönen Panamahut zuzuwinken. Die Seeleute um Bobby Shaftoe verfolgen das Ganze belustigt und ein wenig bewundernd. Im Hafen herrscht ein Wahnsinnsbetrieb, da jedes Stück militärischer Ausrüstung, das nicht in Beton eingelassen ist, auf Schiffe verladen und nach Bataan oder Corregidor geschickt wird, und Onkel Jack, der in seinem guten, cremefarbenen Anzug und Panamahut aufrecht in seinem Boot steht, fädelt sich mit Aplomb durch den Verkehr. Bobby Shaftoe sieht ihm nach, bis er um die Biegung in den Pasig hinein verschwindet, und er weiß, dass er vermutlich der letzte Angehörige seiner Familie ist, der Onkel Jack lebendig zu Gesicht bekommen hat.
    Trotz all dieser Vorahnungen ist er überrascht, als sie schon nach wenigen Kriegstagen mitten in der Nacht und ohne die traditionellen Abschiedszeremonien ihren Liegeplatz verlassen und in See gehen. Manila wimmelt angeblich von Nip-Spionen, und die Nips täten nichts lieber, als ein mit erfahrenen Marines voll gestopftes Transportschiff zu

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