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Cryptonomicon

Cryptonomicon

Titel: Cryptonomicon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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wir mit einem Glas Hochprozentigen an den Strand runter und haben zugeguckt, wie unsere Schiffe torpediert werden.«
    Reagan verzieht das Gesicht. »Schnitt!«, sagt er ruhig, aber bestimmt. Das Klicken der Filmkamera verstummt.
    »Wie war ich?«, fragt Shaftoe, während man ihm die Schminke vom Gesicht rubbelt und die Männer ihre Ausrüstung zusammenpacken. Die Aufheller sind ausgeschaltet worden und durch die Fenster strömt klares, nordkalifornisches Licht herein. Die ganze Szene wirkt beinahe real, als wäre sie überhaupt kein Albtraum.
    »Sie waren prima«, sagt Lieutenant Reagan, ohne ihm in die Augen zu sehen. »Ein echter Mutmacher.« Er zündet sich eine Zigarette an. »Sie können jetzt wieder schlafen.«
    »Ha!« sagt Shaftoe. »Ich hab die ganze Zeit geschlafen. Oder etwa nicht?«
     
     
     
    Sobald er aus dem Lazarett entlassen wird, geht es ihm viel besser. Er bekommt ein paar Wochen Urlaub, begibt sich geradewegs zum Bahnhof Oakland und steigt in den nächsten Zug nach Chicago. Mitreisende erkennen ihn aufgrund der Zeitungsfotos, spendieren ihm Drinks, lassen sich mit ihm zusammen fotografieren. Er starrt stundenlang zum Fenster hinaus, schaut zu, wie Amerika vorüberzieht, und sieht, dass alles schön und sauber ist. Es mag Wildnis geben, es mag tiefen Wald, ja sogar Grizzlybären und Berglöwen geben, aber das Ganze ist säuberlich geordnet und die Regeln (spiel nicht mit Bärenjungen, hänge dein Essen nachts an einen Ast) sind allseits bekannt und stehen im Pfadfinderhandbuch. Auf diesen Inseln im Pazifik dagegen kreucht und fleucht zu vieles, das ständig dabei ist, zu fressen oder von etwas anderem gefressen zu werden, und sobald man einen Fuß dorthin setzt, hat man diesen Sachverhalt zu schlucken. Dass er, die Füße in sauberen weißen Baumwollsocken, einfach nur zwei Tage in diesem Zug sitzt, ohne bei lebendigem Leibe von etwas gefressen zu werden, verhilft ihm zu einem sehr viel klareren Kopf. Nur einmal, möglicherweise auch zwei- oder dreimal, verspürt er wirklich das Bedürfnis, sich auf dem Klo einzuschließen und sich Morphium in den Arm zu spritzen.
    Aber wenn er die Augen schließt, findet er sich auf Guadalcanal wieder, wie er im Wettlauf mit der Flut um die letzte Landzunge platscht. Jetzt wälzen sich die großen Wellen heran, heben die Männer hoch und schmettern sie gegen die Felsen.
    Schließlich biegen sie um die Ecke und sehen die Bucht: bloß ein winziger Einschnitt in der Küste. Hundert Meter Schlammzone, hinten von einer Felswand begrenzt. Sie müssen über die Schlammzone gelangen und im unteren Teil der Felswand festen Fuß fassen, wenn sie nicht von der Flut ins Meer hinausgespült werden wollen …
    Die Shaftoes sind Bergbewohner aus Tennessee – unter anderem auch Bergleute. Ungefähr zu der Zeit, als Nimrod Shaftoe auf die Philippinen ging, zogen zwei seiner Brüder nach West-Wisconsin, um in einer Bleimine zu arbeiten. Einer davon – Bobbys Großvater – wurde Vorarbeiter. Manchmal ging er nach Oconomowoc, um dem Besitzer der Mine, der an einem der Seen ein Sommerhaus hatte, einen Besuch abzustatten. Dann fuhren sie in einem Boot hinaus, um Hechte zu angeln. Häufig kamen auch die Nachbarn des Minenbesitzers – Bankund Brauereibesitzer – mit. So verschlug es die Shaftoes nach Oconomowoc und sie kamen vom Bergbau weg und wurden Angel- und Jagdführer. Die Familie hat gewissenhaft am näselnden Tonfall ihrer Ahnen und an bestimmten anderen Traditionen wie dem Militärdienst festgehalten. Eine seiner Schwestern und zwei seiner Brüder leben immer noch bei Mom und Dad und seine beiden älteren Brüder sind bei der Army. Bobby ist nicht der Erste, der einen Silver Star errungen hat, aber er ist der Erste, dem das Navy Cross verliehen worden ist.
    Bobby spricht vor dem Pfadfinderstamm von Oconomowoc. Man macht ihn zum Großmarschall des städtischen Umzugs. Ansonsten rührt er sich zwei Wochen lang kaum aus dem Haus. Manchmal geht er in den Garten und spielt mit seinen kleinen Brüdern Fangen. Er hilft Dad, einen kaputten Bootssteg zu reparieren. Ständig kommen Jungs und Mädels aus seiner High School zu Besuch, und Bobby hat bald den Kniff heraus, den schon sein Vater, seine Onkel und Großonkel kannten: dass man niemals über die Einzelheiten dessen redet, was dort drüben passiert ist. Kein Mensch will etwas davon wissen, wie man sich mit der Bajonettspitze die Hälfte der Backenzähne seines Kumpels aus dem Bein gestochert hat. Mittlerweile kommen ihm diese

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