Cupido #1
Ich habe Ihre Ausbrüche im Gericht gesehen, und ich weiß auch von Ihren Tobsuchtsanfällen außerhalb. Ich möchte Sie warnen, ich bin weder ein toleranter noch ein geduldiger Richter. Dreimal, und Sie fliegen raus, und zweimal haben Sie schon hinter sich. Ich lasse Sie fesseln und knebeln und jeden Tag in Ihrem roten Overall hierher schleppen, falls Sie sich nicht anständig benehmen. Habe ich mich klar ausgedrückt?»
Bantling nickte, seine kalten Augen wichen dem herausfordernden Blick des Richters nicht aus. «Ja, Euer Ehren.»
«Also gut, hat noch jemand etwas vorzubringen, bevor wir die Geschworenen auswählen?»
Bantling richtete seinen Blick auf C. J. Das Geheimnis baumelte gefährlich über dem Abgrund.
Richter Chaskel wartete einen Moment, dann fuhr er fort. «Gut. Anscheinend nicht. Lassen Sie uns zur Sache kommen. Officer, nehmen Sie Mr. Bantling die Hand und Fußschellen ab, und Hank, holen Sie bitte die ersten fünfzig herein. Ich will vor Ende der Woche eine Jury haben. Lassen Sie uns die Sache nicht bis nach den Weihnachtsferien verschleppen.»
Obwohl sich der Raum zu drehen begann und ihr die Luft wegblieb, hielt C. J. Bantlings Blick tapfer stand. Für den Rest des Saals kaum sichtbar ließ er die rosa Zungenspitze über die Lippen gleiten, und ein wissendes Lächeln verzog sein Gesicht. Sein Mund glänzte im Licht der Saalbeleuchtung.
Sie wusste, dass er sein Schweigen nicht heute brechen würde. Er würde sie zappeln lassen. Er würde das Geheimnis wie eine tödliche Waffe führen, die er erst dann hervorzog, wenn er sie brauchte, und dann würde er schnell und hart zuschlagen und dabei genau auf die Schlagader zielen.
Und sie würde es nicht rechtzeitig kommen sehen.
71.
Am Freitagnachmittag um 14:42 Uhr, genau sechzehn Minuten bevor das Gericht über die Feiertage schloss, wurde die Jury, bestehend aus fünf Frauen und sieben Männern, vereidigt. In Florida mussten sich die Geschworenen nicht in Isolation begeben, und daher konnten alle nach Hause zu ihren Familien fahren. Bantlings Geschworene waren vier Hispanoamerikaner, zwei Afroamerikaner und sechs Weiße, von einem vierundzwanzigjährigen Tauchlehrer bis zu einer sechsundsiebzigjährigen pensionierten Buchhalterin. Alle lebten in Miami, und alle hatten von den Cupido–Morden gehört oder gelesen. Alle gaben an, sich noch keine Meinung über Schuld oder Unschuld des Angeklagten gemacht zu haben, und alle sagten unter Eid aus, sie würden fair und unparteiisch entscheiden.
Als C. J. ihre Akten zusammenpackte, war das Gerichtsgebäude menschenleer. Sogar die Presse hatte ihre Zelte abgebrochen, denn die Auswahl der Geschworenen hatte sich als ereignislos und damit langweilig erwiesen.
In der Staatsanwaltschaft war es nicht anders. Tigler hatte die Behörde offiziell um 15:00 Uhr geschlossen, aber die meisten waren schon mittags gegangen. C. J. lief an den verlassenen, weihnachtlich geschmückten Schreibtischen des Sekretariats vorbei. Die Papierkörbe quollen über vor rotem, grünem und weißem Geschenkpapier. Halb leere Plastikbecher und Pappteller mit Essensresten stapelten sich auf einem großer Rollwagen, mit dem normalerweise Aktenordner aus dem Keller geholt wurden und der jetzt einsam neben dem Kopierer stand – die Überbleibsel der Weihnachtsfeier, die C.J. verpasst hatte. Die meisten Anwälte der Major Crimes Unit waren schon Anfang der Woche in die zweiwöchigen Ferien aufgebrochen, um ihren Resturlaub zu nehmen, bevor er verfiel. Die Büros lagen dunkel da.
C. J. packte die Akten ein, die sie über die Feiertage brauchte, um ihre Eröffnungsworte fertig zu stellen, und schloss die anderen in den Schrank. Sie nahm ihren Mantel, die Handtasche, den Aktenkoffer und das Wägelchen mit den Ordnern und machte sich auf den Weg zum Fahrstuhl. Kein Wunder, dass die Selbstmordrate an Thanksgiving, Weihnachten und Neujahr rapide anstieg. Denn es waren nicht nur die schönsten Tage des Jahres, es konnten auch die einsamsten sein.
C. J. ging durch die Lobby auf den inzwischen dunklen Parkplatz und zog den Mantel enger um sich. Selbst so weit im Süden konnte die Nachtluft kalt werden, und im Dezember blies manchmal ein unangenehmer Wind über den Miami River.
Alle anderen hatten Pläne. Besuche bei Freunden, geliebten Menschen. Nur sie nicht. Für C. J. gab es kein Weihnachten, und auch diesmal würden die Feiertage vergehen wie in den vergangenen Jahren – ohne Lieder, ohne Segenswünsche oder was die vorgedruckten
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