Cupido #1
Weihnachtskarten sonst noch so alles versprachen. Natürlich, da waren ihre Eltern in Kalifornien. Aber es war verrückt, für zwei Tage an die Westküste zu fliegen. Außerdem überschatteten die bösen Erinnerungen diese Besuche und machten jedes Gespräch unmöglich. Ihre Mutter wollte immer alles Unangenehme ausblenden und hätte am liebsten eine Woche lang über das Wetter und Musicals geredet. Und ihr Vater starrte sie pausenlos traurig an; wahrscheinlich wartete er still auf ihren nächsten Zusammenbruch. Eine Woche im Sommer konnte C. J. emotional gerade noch verkraften – aber nicht im Winter, nicht an Weihnachten. Bantling hatte ihr auch das genommen: Auch die Beziehung zu ihren Eltern hatte er zerstört. Wie schon die letzten Jahre gäbe es wieder Truthahn mit Lucy und Tibby zu Hause. Allerdings ohne Jimmy Stewart im Fernsehen. Stattdessen würde sie in der Einsamkeit ihrer Küche an den Eröffnungsworten arbeiten, Kreuzverhöre vorbereiten, das Schlussplädoyer formulieren, all ihr Können darauf konzentrieren, einen Mörder zu erledigen.
Es war genau eine Woche her, dass sie Dominick das letzte Mal gesehen hatte, und sie fragte sich, wie er Weihnachten wohl verbrachte. Mit Familie? Freunden? Allein? Plötzlich merkte sie, wie wenig sie von ihm wusste, und wie sehr sie einst gehofft hatte, mehr über ihn zu erfahren. Zu gern hätte sie daran geglaubt, dass sie nach dem Prozess dort weitermachen könnten, wo sie aufgehört hatten. Aber war das denn überhaupt möglich? Er hatte sehr endgültig geklungen, als er neulich ging – als sie ihn gehen ließ.
Noch ein Opfer für einen höheren Zweck. Aber dieses Opfer war alles andere als klein.
Sie erreichte den Jeep, lud ihre Akten und Ordner ein und winkte dem Wachmann zu, der in der warmen, hell erleuchteten Lobby des Graham Building Dienst hatte. Dann fuhr sie los, in Richtung Fort Lauderdale und der einzelnen Portion Truthahn, die sie dort erwartete, ohne das vertraute Gesicht zu bemerken, das sie aus dem Schatten beobachtete.
Sie beobachtete. Abwartete.
72.
«Wenn ich hier an meinem Platz sitzen bleiben und schweigen würde, einfach nur hier sitzen und kein Wort sagen – dann würden Sie ihn für schuldig halten, obwohl er laut Gesetz nicht schuldig ist.» Lourdes blieb auf ihrem Stuhl sitzen, als sie ihre Eröffnungsworte begann. Sie blickte zur Richterbank, und es wirkte, als würde sie laut denken.
C. J. hatte sich eben gesetzt, nachdem sie vor der aufmerksamen Zuhörerschaft und den Kamerateams eine gute, solide, eindringliche Eröffnung gehalten hatte, die keinen Raum für Spekulationen ließ. Jetzt war Lourdes an der Reihe.
Lourdes ließ ein paar Sekunden verstreichen, dann drehte sie sich endlich um und sah die Geschworenen voller Zweifel und Enttäuschung an. «Sie alle betrachten meinen Mandanten, als wäre er ein Meuchelmörder. Sie haben Angst und ekeln sich angesichts des überaus farbigen, blutigen Bilds, das Ihnen die Anklage in den letzten sechzig Minuten ausgemalt hat. Ohne Frage, Anna Prado war eine schöne junge Frau, die von einem Verrückten brutal abgeschlachtet wurde. Und jetzt glauben Sie, hier vor Ihnen säße der Schuldige, als wären die Worte der Staatsanwältin Beweis genug. Denn Sie wollen Angst haben und sich ekeln beim Anblick von William Bantling, selbst wenn Ihr gesunder Menschenverstand Ihnen bestimmt sagt, dass dieser attraktive, gut erzogene, erfolgreiche Geschäftsmann diese Reaktion nicht unbedingt verdient.» Sie legte die Hand locker auf Bantlings Arm und tätschelte ihn. Dann schüttelte sie den Kopf. «Aber was die Anklägerin in ihrer Eröffnung vorgebracht hat, ist kein Gutachten, Ladies und Gentlemen. Es ist keine Beweisführung. Es ist keine Tatsache. Es ist Theorie. Annahme. Spekulation. Es ist die Vermutung, dass die Spuren und die vermeintlichen Tatsachen, die sie in diesem Fall vorzubringen hofft, dass diese Tatsachen auf einer Schnur aufgefädelt eine erdrückende Beweiskette bilden. Sie will Sie alle hier zu dem Schluss zwingen, den sie bereits für Sie gezogen hat: dass mein Mandant des Mordes schuldig ist. Aber ich warne Sie, Ladies und Gentlemen, die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen. Und Tatsachen – ganz gleich wie böse, wie blutig sie sein mögen – lassen sich nicht immer in einer Kette aufreihen.»
Jetzt erhob sich Lourdes und stellte sich vor die Jury, suchte den direkten Blick. Manche der Geschworenen sahen weg, voller Scham, dass sie genau den Schluss gezogen
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