Curia
oder Schreiber zu sein.
»Flamel kaufte das Buch für zwei Gulden«, fuhr Raisa fort, »aber obwohl er die alchemistische Symbolik sehr gut kannte, brauchte er einundzwanzig Jahre, um es zu entschlüsseln, und am Ende gelang ihm dies nur mithilfe eines jüdischen Kabbalisten aus Galicien.«
»Was war so Besonderes an dem Buch?«, fragte Théo.
»Es offenbarte das Geheimnis des Großen Werks, besser bekannt unter dem Namen Stein der Weisen.«
»Der Stein der Weisen?« Ein sarkastisches Lächeln spielte um Konstantines Mund. »Ich hab’s ja immer gesagt, dieser Pico della Mirandola war ein großer Scharlatan.«
»Spyro, manchmal redest du einen ziemlichen Blödsinn!« Raisa stellte ihr Champagnerglas hart auf dem Tisch ab. »Gebildete und intelligente Menschen wissen, dass der Stein der Weisen eine Metapher ist, etwas, was ein Ideal spiritueller Erhöhung beschreibt, nicht aber die Verwandlung von Metall in Gold, wie Leser von ›Paris Match‹ wie du glauben.«
»Ich soll ein Leser von ›Paris Match‹ sein?« Konstantine erhob sich halb aus dem Sessel, einen Daumen auf seine Brust gerichtet. »Hör mal gut zu, meine liebe Seelenklempnerin …«
»Hört ihr bitte auf damit?« Théo fuhr mit der Hand durch die Luft. »Du hast gesagt, dass dieses Buch Flamels Leben änderte. Warum?«
»Von einem Tag auf den anderen wurde Flamel steinreich, und niemand hat je die Quelle dieses plötzlichen Reichtums herausgefunden. Aber noch erstaunlicher ist, was er mit dem Geld machte.«
Flamel finanzierte den Bau von gut vierzehn Armenspitälern und Hospizen, außerdem ließ er viele Kirchen verschönern, ohne seinen im Grunde kleinbürgerlichen Lebensstil zu ändern. In seinem Testament vermachte er den Großteil seiner Güter wohltätigen Organisationen.
»Klar doch, was kostete ihn das schon?« Konstantine trank einen Schluck Bushmills. »Ein paar Destillierkolben im Keller, ordentliche Bleivorräte, eine Fledermaus, die über das Zauberbuch flattert, und – paff! –, schon fließt das Gold in Strömen. Raisa, ich wundere mich über dich.«
»Ich habe nur Fakten genannt. Alle belegbar.«
»Wo ist das Buch gelandet?«
»Leider verschwunden.«
»Ah!« Konstantine lachte höhnisch.
»Doch in der Pariser Bibliothèque Nationale wird eine Handschrift mit dem Titel Figures Hyeroglyphiques d’Abrahm Juif aufbewahrt.« Raisa blickte auf ihren Notizblock. »Sie trägt die Signatur FR 14765. Diese Handschrift enthält viele, zumeist nicht entschlüsselbare Bilder, die in dem ursprünglichen Buch enthalten waren, außerdem mehrere Schriften von Flamels eigener Hand.«
Théo verzog den Mund. »Viel ist das nicht.«
Er streckte eine Hand nach der Flasche Courvoisier aus, doch Raisa war schneller. Ihre Finger streiften sich, und sie blickten einander an.
»Das ist nicht alles.« Raisa goss ihm den Cognac ein. »Im 17. Jahrhundert geschah hier in Paris etwas sehr Sonderbares, was indirekt die Existenz des Buches beweist.«
Das Buch Abrahams des Juden und seine Zauberkräfte wurden in halb Europa zum Mythos, und sogar Louis XIII. ließ einen Nachfahren Flamels zu sich kommen, einen gewissen Dubois. Niemand wisse genau, was bei dieser Begegnung passiert sei, so Raisa, doch der König sei so beeindruckt von dem gewesen, was er gehört und gesehen hatte, dass er Kardinal Richelieu befahl, das Buch zu besorgen und das Geheimnis zu entschlüsseln.
Aus zeitgenössischen Chroniken, die ebenfalls in der Bibliothèque Nationale zu finden seien, gehe hervor, dass Richelieu Dubois nach einigen Unterredungen gefangen nehmen und hinrichten ließ. Seine Habe, einschließlich des Buches, wurde konfisziert. Nachdem er Dubois’ Haus von oben bis unten durchkämmt hatte, ließ der Kardinal sich im Château de Rueil, seiner Privatresidenz, ein alchimistisches Labor einrichten.
»Trotz jahrelanger Experimente gelang es Richelieu jedoch nicht, das Geheimnis des Buches zu ergründen«, erzählte Raisa. »Nach seinem Tod verschwand das Buch, und niemand hat je erfahren, was daraus wurde.«
»Was hat Richelieu deiner Meinung nach in Dubois’ Haus gesucht?«, fragte Théo.
»Eine Probe vom ›Projektionspulver‹.«
»Projektionspulver? Was ist das für ein Zeug?«
»So bezeichneten die Alchimisten des Mittelalters eine Substanz, die man angeblich aus Gold gewinnt.«
»Und die dem Weißen Pulver der Ägypter entspricht?«
»Davon bin ich überzeugt.«
»Ich dagegen bin überzeugt, dass er den Stein der Weisen suchte«, meinte
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