Curia
zwischen Freud und Sartre – möge Allah ihnen vergeben, allen beiden.«
Théo ließ die Uhrkette baumeln. »Erinnerst du dich an dieses Gemälde von Munch, das vor einigen Jahren aus dem Museum von Oslo gestohlen wurde? Der Schrei ? Eine Gestalt mit einem Gesicht wie ein Schädel, die sich die Ohren zuhält, auf einer Brücke unter einem Himmel aus Feuer?«
»Natürlich. Ein armer Teufel, den Mund zu einem Schrei aufgerissen, der durch die ganze Welt zu dröhnen scheint. Komischer Typ, dieser Munch. Aber was hat das mit Echnaton zu tun?«
»Auf dem Bild gibt es ein Detail, das niemand beachtet. Im Hintergrund sieht man am Ende der Brücke zwei Figuren, denen die Angst dieses Armen anscheinend vollkommen egal ist.«
»Na und?«
»Munch hat in seinem Tagebuch etwas geschrieben, was ich wer weiß wie oft gelesen habe. ›Meine Kunst entspringt dem Nachdenken über die Gründe, warum ich nicht so bin wie die anderen … Warum ich in die Welt geworfen wurde, ohne selbst entscheiden zu dürfen … Manchmal habe ich meinen Weg verlassen, um mich in den Strudel des Lebens zu stürzen. Aber ich musste immer wieder auf genau diesen Weg zurückkehren, der am Rand eines Abgrunds entlangführt.‹«
Khalid griff nach seinem Arm. »Théo, was quält dich?«
»Spürst du diese Angst nie? Ich bin überzeugt, dass er sie spürte. Die Angst, allein zu sein und nicht der sein zu können, der du bist. Sogar Angst, nicht schreien zu können, weil niemand dich hören würde, angefangen bei dir selbst, denn wir verstopfen uns ja ohnehin die Ohren, um unsere eigenen Schreie nicht zu hören.«
»Das Leben ist für niemanden leicht, aber ich versuche, mich anzupassen, wie alle. Ich bin nicht Echnaton. Ich bin nicht geboren, um die Welt zu verändern, aber ich lasse es auch nicht zu, dass die Welt mich verändert.« Khalid zuckte mit den Achseln. »Ich bin so, wie ich bin, und die Welt ist so, wie sie ist. Um den Rest kümmert sich Allah.«
»Träumer. Du trägst eine Maske wie wir alle, und am Ende weißt du selbst nicht mehr, wer du bist. Und wenn du eines Tages versuchst, sie abzunehmen, um ein bisschen Sauerstoff zu tanken, kommt der Schrei von Munch auf der Brücke dabei heraus.«
»Du bist viel zu kompliziert! Das habe ich dir immer schon gesagt.«
»Aber verstehst du denn nicht, dass Munch auf diesem Bild dich gemalt hat und mich und alle, die uns vorausgegangen sind, einschließlich Echnaton?«
»Ich soll wie der da sein? Sprich für dich selbst. Wenn ich ein Problem habe, rede ich mit Ihm darüber«, er zeigte auf den Himmel, »und alles kommt in Ordnung. Wenn du aber lieber auf deine Existenzialisten hörst, angefangen bei diesem anderen feinen Helden, der gesagt hat: ›Gott ist tot‹, tja, tut mir leid, mein Freund, dann wundert es mich nicht, dass dir solche Gedanken kommen.«
Hatte es überhaupt Sinn weiterzureden?, überlegte Théo. Vielleicht war es besser, Khalid seine Illusionen zu lassen.
Er hatte eine Antwort in der Musik gesucht, doch jedes Mal, wenn der Bogen innehielt, gewann die Wirklichkeit wieder Oberhand. Doch welche Wirklichkeit? Es gab nichts Objektives. Das bewusste Ich glaubt sich zu kennen, aber was es sieht, sind nur die Schatten in Platons Höhle, denn jeder sieht die »Wirklichkeit« auf seine Weise. Das nicht bewusste Ich entzieht sich uns, weil es von unkontrollierbaren Kräften beherrscht wird. Das dritte Ich, die Art und Weise, wie uns die Leute sehen, zerfällt in tausend verschiedene Bilder, weil jeder uns anders sieht.
Wir alle tragen Masken, die uns die gesellschaftlichen Konventionen aufzwingen, Masken ohne Gesichter, wie die Bilder im Spiegellabyrinth. Wenn wir eines Tages versuchen, uns aus dieser Ameisenkolonie zu befreien, indem wir unser wahres Ich suchen, sehen wir uns beim Erwachen in Kafkas Käfer verwandelt. Die Gesellschaft hat uns ausgelöscht, weil Anderssein tabu ist. So war es für alle, die Pharaonen bildeten keine Ausnahme.
Wer war er, Théo? Der Archäologe? Der Musiker? Der Liebhaber von Shakespeares Sonetten? Oder der, der davon träumte, sein Leben mithilfe eines verschrobenen Önologen aus der Provence zu ändern? Der arme Teufel, der nicht den Mut fand, einer Frau seine Gefühle zu bekennen, nur weil ihre Haare nicht die richtige Farbe hatten? Das alles zusammen? Oder nichts davon?
»Der Tod Gottes ist der Preis, den man zahlt, um frei entscheiden zu können und durch nichts festgelegt zu werden«, sagte Théo.
»Wenn das Ergebnis aussieht wie bei Munch,
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