Curia
Inmitten des allgemeinen hektischen Aufbruchs verabschiedeten er und Khalid sich rasch von Kassamatis, und die beiden suchten tastend den Weg zu ihren Zelten.
Théo kroch hinein, schloss die Zeltklappe und zündete die Petroleumlampe an. Dann streckte er sich auf einem Schaffell aus und deckte sich bis zum Hals mit einem Kaftan zu. Der Wind pfiff, die Lampe schaukelte, und der Sand prasselte gegen den Zeltstoff.
42 Raisa betrat das Maison de la Presse und suchte in dem Ständer mit den ausländischen Zeitungen nach Meldungen über Mayos Tod. Gestern war sie eine Weile versucht gewesen, Wendel in Oak Ridge anzurufen, aber dann hatte sie es doch nicht getan. Sie hatte Angst.
Ob Mayo ihren Namen genannt hatte? War der Mörder ihr schon auf den Fersen? Théo hatte recht, sie musste sofort von hier weg. Aber wohin? Wie lange würde sie sich noch verstecken müssen? Was war aus ihrem Leben geworden?
Ein Geruch nach Aftershave schwebte in der Luft. Sie blickte auf. Der Mann auf der anderen Seite des Ständers lächelte ihr zu. Lange, der Gast, der gestern Abend in der Pension angekommen war. Ein soignierter Typ, er hatte etwas von Rex Harrison. Nach den wenigen Worten zu urteilen, die sie heute Morgen aufgeschnappt hatte, als er beim Frühstück mit dem Serviermädchen sprach, musste er einer dieser galanten Kavaliere alter Schule sein, deren Taschentücher nach Eau de Cologne riechen und die noch Rosensträuße verschicken. Sie lächelte zurück.
Der Mann drehte sich zum Schaufenster um. Er blickte Raisa nach, die über die Promenade auf den Strand zuging. Dann bezahlte er ein Kreuzworträtselheft und schlenderte langsam die Avenue d’Ornano entlang.
Am Empfang in der Pension Home de Préaumont war niemand zu sehen. Ein altes Radio spielte Que c’est triste Venise , und in der Luft lag eine Mischung aus Kaffeeduft und dem Geruch nach Desinfektionsmittel. Eine Weile starrte der Mann auf das Schlüsselbrett, dann holte er die Nummer 9 vom Haken.
Raisa wanderte mit nackten Füßen am Wasser entlang, einen Pareo mit japanischen Motiven um die Hüften gebunden. Die Schreie der Möwen begleiteten das Klatschen der Wellen. Als das Schieferdach der Pension vor dem blauen Himmel auftauchte, stieg sie über den Strand zur Straße hoch, zog ihre Sandalen wieder an und nahm die Treppe, die zur Pension führte.
Lange lag in Leinenshorts auf einem Liegestuhl in der Sonne. Das über der Brust aufgeknöpfte blaue Seidenhemd offenbarte eine leichenblasse Haut. Die blaue Stoffmütze mit dem roten Pompon war ihm über die Augen gerutscht, und das Kreuzworträtselheft war auf den Rasen gefallen. Sie beneidete ihn.
Als Raisa durch die Terrassentür ins Haus ging, hob Lange den Hut und blickte ihr nach.
Am Empfangstresen kündigte Raisa der Wirtin an, dass sie am nächsten Tag abreisen würde. Ihr Blick fiel auf ein schwarzes Brett mit Ansichtskarten aus exotischen Ländern. Madeira? Casablanca? Die Balearen? Wo sollte sie hin?
»Monsieur Lange, haben Sie gehört? Madame Belmont verlässt uns morgen«, sagte die Frau zu Lange, der auf der Tür zum Garten stand. »Ist es nicht schade, bei so einem Wetter abzureisen? Los, unterstützen Sie mich, sagen Sie es ihr.«
»Madame, auch wenn ich eben erst angekommen bin, darf ich sagen, dass das Home de Préaumont ohne Sie nicht mehr dasselbe sein wird.«
Irgendwie passte Langes Blick nicht zu seinen Worten. Raisa wurde unruhig.
Gleich würde die rote Sonnenscheibe den Horizont berühren. Raisa schaute auf die Uhr. Sechs. Warum nicht einen letzten Spaziergang bis zur alten Anlegebrücke machen? Sie faltete das Handtuch zusammen, hängte sich die Strandtasche über die Schulter und machte sich auf den Weg.
Lange hob die Augen von seinem Kreuzworträtselheft und beobachtete Raisa, die sich entfernte. Er setzte seine Mütze mit dem Pompon auf und stieg die Treppe zum Strand hinunter.
Auf einer Bank an der Strandpromenade saß ein Mann mit Strohhut, Sonnenbrille und einer leeren elfenbeinernen Zigarettenspitze. Nachdem er beobachtet hatte, wie Lange schräg über den Strand auf das Wasser zuging, stand er auf und nahm auf dem Bürgersteig dieselbe Richtung.
Raisa war an der menschenleeren Anlegebrücke angekommen. Man hörte nur das Knirschen der Taue, die klatschenden Wellen und das Kreischen der Möwen. Ein Geruch nach Salz, nassem Tauwerk und Algen erfüllte die Luft.
Sie stieg die Holzbrücke hinauf und ging bis ans Ende der Brücke. Unter ihren Schritten ächzten die
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