Curia
klang aufrichtig, doch es war ihm immer schwergefallen, hinter dieser Maske aus Perfektion eine Spur Menschlichkeit wahrzunehmen. Er setzte sich und fasste die Ereignisse in Rom zusammen.
»Jetzt verstehe ich. Ich hatte mich schon die ganze Zeit gefragt, wo dieses plötzliche Interesse an der Bibel herrührt. Kannst du mir sagen, was du vorhast?«
»Ich will einen Mythos rekonstruieren.«
»Der Exodus ein Mythos? Na, immerhin ein Mythos, an den zwei Milliarden Menschen glauben.«
»Ein Publikum findet sich leicht, wenn du den Leuten sagst, was sie hören wollen.«
»All das, worum du mich gebeten hast, steht in dem Bericht.« Michaela zeigte auf die Mappe, die Théo auf dem Schreibtisch abgelegt hatte.
Théo blätterte darin und konzentrierte sich auf die Stellen, die er am Abend zuvor unterstrichen hatte. Michaela hatte jeden Aspekt des Themas mit ihrer üblichen Pingeligkeit abgehandelt, Kommentare und Schlussfolgerungen aber sorgfältig vermieden.
»Das Erste, was mich nicht überzeugt«, sagte Théo, »ist die Anzahl der jüdischen Sklaven, die Ägypten angeblich verlassen haben.«
»Die Bibel ist eindeutig.« Michaela zitierte die Volkszählung, die Moses persönlich vorgenommen hatte. »›Und die Summe der Israeliten nach ihren Sippen, von zwanzig Jahren an und darüber, alles, was wehrfähig war in Israel, war 603 550.‹«
»Lassen wir beiseite, dass eine so genaue Zahl an sich schon verdächtig ist. Zählt man Frauen, Alte und Kinder dazu, bedeutet das einen Auszug von mindestens zwei Millionen Menschen.«
»Das ist wahrscheinlich, wenn man sich an diese Zahl hält.«
»Wie viele Einwohner hatte Ägypten zu der Zeit?«
»Zwischen vier und fünf Millionen, den Historikern zufolge.«
»Also hätte ein Exodus von zwei Millionen Menschen eine Verringerung der Bevölkerung um vierzig bis fünfzig Prozent bedeutet. Kannst du dir vorstellen, dass die jüdischen Sklaven vierzig Prozent der ägyptischen Bevölkerung ausmachten?«
»Das kann niemand sagen.«
»Aber ein derartiger Exodus hätte die Gesellschaft und Wirtschaft Ägyptens von Grund auf erschüttert. Warum gibt es in ägyptischen Quellen – Papyri oder Grabinschriften – nicht die geringste Spur eines so herausragenden Ereignisses?«
»Offenbar hielten die Ägypter es nicht für so herausragend.«
»Ach nein?«
»Wenn du während des Exodus Pharao gewesen wärst, hättest du dann ein besonderes Interesse daran gehabt, die Geschichte einer Niederlage zu erzählen? Überdies eine durch Sklaven erlittene Niederlage?«
»Na gut. Warum hat dann aber auch keines der Nachbarvölker Ägyptens – Kanaaniter oder Moabiter – je davon berichtet? Ein Exodus von zwei Millionen Menschen aus Ägypten in das Land Kanaan, der vierzig Jahre dauert: So was passierte nicht gerade jeden Tag.«
»Ägyptens Nachbarn hatten dringlichere Probleme.«
Théo drehte den Bericht zu Michaela um. »Du hast hier geschrieben, dass Jakob von siebzig Familienmitgliedern nach Ägypten begleitet wurde. Kannst du mir diese Zahl bestätigen?«
»Da gibt es wenig zu bestätigen. So steht es in Genesis 46,27.«
»Aber in Exodus 12,40 heißt es auch«, Théo schlug die Bibel an einer markierten Stelle auf: »›… die Israeliten blieben vierhundertdreißig Jahre in Ägypten.‹«
»Und weiter?«
»Wenn man von einer vorsichtigen Rechnung ausgeht«, Théo reichte ihr ein mit Zahlen übersätes Blatt Papier, »und sich an die Zahl 603 550 hält, dann hätte jede jüdische Frau mindestens acht Kinder gebären müssen. Erscheint dir das plausibel?«
»In biblischer Zeit waren die Israeliten sehr fruchtbar.«
»Die Historiker sagen übereinstimmend, dass die Kindersterblichkeit in Ägypten damals bei über fünfzig Prozent lag. Folglich stiege der Durchschnitt auf sechzehn Kinder pro jüdischer Frau. Auch in biblischer Zeit ziemlich schwer vorstellbar.«
Michaela lächelte mitleidig. »Du machst den üblichen Fehler der Leute, die sich darauf versteifen, die Bibel wörtlich zu verstehen, und sich obendrein auf falsche Übersetzungen des Althebräischen verlassen.«
»Zum Beispiel?«
»Das hebräische Wort ›elef‹ bedeutet nicht nur ›tausend‹, sondern auch ›Stammeseinheit‹ oder ›Truppenkontingent‹«, sagte Michaela in nachgiebigem Ton. »Nach Meinung der Forscher ist die Übersetzung ›tausend‹ falsch, stattdessen müsse man ›603 550‹ als ›sechshundert Kontingente‹ lesen.«
»Sind dir die Amarna-Briefe ein
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