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Cut

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Titel: Cut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Kyle Williams
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brachte nicht viel ein, aber es war wichtig, hin und wieder für Tyrone verfügbar zu sein, sonst würde er mich abschreiben, und man konnte nie wissen, wann man Arbeit brauchte. Die Kanzleien zahlten gut, vor allem Guzman, Smith, Aldridge und Haze, doch die Konkurrenz in der Branche war groß, und mein Vater sagte immer, man solle nicht alles auf eine Karte setzen. Schließlich musste ich jeden Monat eine riesige Hypothek abzahlen. Ich versuche, keine Brücken abzubrechen, egal, wie schmal sie sind.
    Ich schweifte in Gedanken ab zu meiner Reise nach Jekyll Island. Als ich ans Meer und die klare Salzluft dachte, versetzte es mir einen Stich. Dort wollte ich sein, am Strand entlangspazieren, einen Hund adoptieren, einen alten Pick-up kaufen und vielleicht sogar White Trash mit Sandkrebsen bekannt machen. Wovon würde ich dort unten leben? Könnte ich ohne Diane und Neil und Rauser auskommen? Ich ließ diesen Film eine Weile in meinem Kopf ablaufen. Dann musste ich an Mrs.   Chambers denken, die an diesem schönen Ort lebte und doch in all den Jahren ihren Kummer nicht losgeworden war. Mir ging es nicht anders. Der Kummer verändert sich und wird ein bisschen schwächer, aber wenn jemand, den man liebte, ermordet wurde, muss man mit diesem Schmerz immer leben.
    Tyrones Kautionsbüro befindet sich in der Mitchell Street, nur ein paar Straßen entfernt vom Capitol, dem Rathaus und den Gerichten, im fünften Stock eines allmählich verlotternden gelben Stuckgebäudes. In der unmittelbaren Nachbarschaft gibt es mindestens zwölf weitere Kautionsbüros. Am besten gefällt mir
Mama Holt Dich Raus   – Kautionen & Mehr
am Memorial Drive.
    Ich nahm die Treppe nach oben. Die Fahrstühle in dem Gebäudewaren mir bereits bekannt. Die Knöpfe sind mit Fingerabdrücken verschmiert, der Teppich ist dreckig, und man will lieber nichts anfassen. Im Treppenhaus roch es nach Pisse, aber ich wusste wenigstens, dass ich mich aufwärtsbewegte, was man im Fahrstuhl, der unter der kleinsten Herausforderung ächzte, nicht immer sagen konnte. Was, wenn ich ein klitzekleines Gramm zu viel hatte und er es nicht mehr schaffte? Ich hatte heute schon drei Donuts verdrückt. Überraschungen im Fahrstuhl mag ich überhaupt nicht.
    Im Vorraum von Tyrones Büro war es ruhig, der Tisch der Sekretärin unbesetzt. Ich hatte dahinter schon viele verschiedene Gesichter gesehen. Tyrone holte sich für ein paar Tage in der Woche Leute von einer Zeitarbeitsfirma.
    «Hey, Keye, alles klar?» Er trug einen zitronengelben Blazer über einem roten Seidenhemd. Als er sich zurücklehnte und seine Beine übereinanderschlug, sah ich, dass die Hose zur Jacke und die Socken zum Hemd passten. Er war der einzige Farbtupfer in dem tristen Büro. Tyrone war eins neunzig groß, hatte die breiten Schultern eines Gewichthebers und Grübchen, wenn er lächelte. Ich fand, er sah gut aus. Er fand das auch.
    «Schnappst du mir den Jungen?»
    Ich zuckte mit den Achseln. «Was ist drin?»
    «Ich bitte dich.» Er lachte und zeigte seine Grübchen. «Komm mir nicht so.» Er nahm einen Umschlag von seinem Schreibtisch und reichte ihn mir. «Der Junge heißt Harrison. Wenn du die Sache übernimmst, sorge ich dafür, dass du nächstes Mal einen guten Auftrag kriegst.»
    Lyndon Harrison war innerhalb der Stadtgrenzen auf der Interstate 75 angehalten worden. Bei einem Alkoholtest war herausgekommen, dass er die Promillegrenze minimal überschritten hatte. Als er mit aufs Revier kommen sollte, benahmer sich dem Polizeibeamten gegenüber rüpelhaft, und der stockte die Anzeige wegen Trunkenheit im Straßenverkehr prompt um Widerstand gegen die Staatsgewalt auf. Harrisons Mutter bürgte mit ihrem Haus für die Kaution. Für die sechstausend Dollar, die Tyrone gezahlt hatte, wäre das Haus eine nette Gegenleistung gewesen, aber so ein Typ sei er nicht, sagte er mir grinsend.
    Ich folgte der Mitchell Street bis zur Capital Avenue, bog in der Nähe des Grady-Krankenhauses auf die Dekalb Avenue und fuhr nach Osten Richtung Oakhurst, einem Stadtteil von Decatur. Früher war Oakhurst eine heruntergekommene, drogenverseuchte und gefährliche Gegend gewesen. In den letzten Jahren war sie gewissen Verschönerungsmaßnahmen unterzogen worden. Durch die Ausbreitung des Stadtgebietes und die steigenden Immobilienpreise in Atlanta und Decatur, die mittlerweile an mehreren Stellen zusammengewachsen waren, hatte sich das Leben vieler langjähriger Einwohner Oakhursts verändert. Winzige Holzhäuser auf

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