Cut
kleinen Parzellen waren plötzlich einige hunderttausend Dollar wert, sodass immer mehr Bewohner verkauften. Allmählich werden die Viertel renoviert oder abgerissen. Doch da manche der alten Einwohner geblieben sind, sieht man heutzutage zwischen renovierten Häusern mit Anbauten und Sicherheitszäunen hin und wieder völlig verfallene Hütten.
Die Harrisons wohnten unweit der M ARTA -Station East Lake an der Winter Avenue in einem kleinen weißen Backsteinhaus mit schwarzen Fensterläden und einem gepflegten Garten. Unter den Fenstern blühte Lavendel, und um den Briefkasten waren Gerbera gepflanzt worden. Als ich klingelte, entdeckte mich durch das Vorderfenster ein Golden Retriever, der bellte und gleichzeitig heftig mit dem Schwanz wedelte.
Der Junge, der an die Tür kam, war höchstens achtzehn. Es war nicht Lyndon Harrison, der Kautionsflüchtige, von dem ich ein Foto hatte. Durch das Fliegengitter hindurch roch ich Haschischrauch.
«Hi», sagte ich. «Ist Lyndon da?»
Er lächelte. «Kleinen Moment, okay?»
«Okay», sagte ich. Kaum war er weg, schlüpfte ich in die schmale Diele, in der sich eine Garderobe, ein Spiegel und der Golden Retriever befanden. Er schnüffelte an meiner Hand, bis ich mich bereit erklärte, ihm etwas Aufmerksamkeit zu schenken. Ich kniete mich neben ihn und kraulte ihn hinter den Ohren.
«Kann ich dir helfen?», fragte eine männliche Stimme.
«Hi, Lyndon», sagte ich so unbedrohlich, wie ich konnte. Als ich mich aufgerichtet hatte, wanderte meine linke Hand zur Gesäßtasche mit den Handschellen. Die rechte Hand streckte ich aus, aber er nahm sie nicht an. «Mein Name ist Keye Street.»
«Ja, und?»
Lyndon Harrison war ein großer Junge und so spindeldürr, dass er offenbar sehr plötzlich in die Höhe geschossen war. Ich lächelte. Ich hoffte immer noch, dass er keine Probleme machen würde, doch sein mürrischer Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.
«Ich habe mich nur gefragt, ob du vielleicht deinen Gerichtstermin vergessen hast.»
«Wer bist du, verdammte Scheiße?», wollte er wissen, und da kam der Junge zurück, der mir die Tür geöffnet hatte.
«Was ist los, Baby?», fragte er und schmiegte seinen Kopf an Lyndons Schulter.
«Die will mich vor Gericht zerren», jammerte Lyndon und legte einen Arm um die Taille des Jungen. Seine Augenwaren sehr blau und blutunterlaufen, sein Haar weißblond in den Spitzen, er trug weite Jeans, deren Schritt ihm fast zwischen den Knien hing und die mit einem Seil statt einem Gürtel zugebunden war. Ein Kiffer wie aus dem Bilderbuch.
«Du willst ihn ins Gefängnis bringen?», fragte sein Freund. Seine Augen strahlten. Anscheinend hatte er was übrig für dramatische Szenen.
Ich schüttelte den Kopf. «Er muss nur mit mir ins Büro kommen, damit wir einen neuen Termin machen und ein paar Dinge klären können.»
Na ja.
«Dazu habe ich heute keine Lust», verkündete Harrison.
Ach, Jungchen.
«Deine Mama hat mit ihrem Haus für dich gebürgt», erinnerte ich ihn. «Dir ist klar, dass sie es verlieren kann?»
Er sah auf mich herunter, als wäre ich die furchtbarste Langweilerin auf Erden. «Ich komme morgen», sagte er mit einem müden Blinzeln und wandte sich ab.
Ich packte sein rechtes Handgelenk und legte ihm die Handschellen an, und als er sich wie der Blitz umdrehte, ließ ich sie auch um das andere Handgelenk zuschnappen. «Tut mir leid, aber morgen passt mir nicht.»
«Wer bist du?»
«Kautionseintreibung», antwortete ich. «Gehen wir.»
«Cool»,
sagte sein Freund, als ich Lyndon aus der Tür schob.
«Kann Clifford mitkommen?», wollte Lyndon wissen. Sein Freund und der Hund folgten uns, als wir zu meinem Wagen an der Straße gingen.
«Kann dein Freund nicht auf ihn aufpassen?»
Lyndon schnaubte. «Clifford ist mein Freund, Mensch!»
Ich machte die Beifahrertür auf, half ihm auf den Sitz, zogden Sicherheitsgurt durch die Kette der Handschellen und schnallte ihn an, damit er nicht auf die Idee kam, eine Biege zu machen. «Und wie heißt der Hund? John?», fragte ich.
«Du bist echt eine totale Nervensäge», fluchte Lyndon.
Im Rückspiegel sah ich Clifford und den Hund mitten auf der von Eichen gesäumten Straße stehen. Clifford winkte leicht mit den Fingern, als wir losfuhren.
L iebling, ich bin zu Hause.
Die Stimme war laut genug, um überall im beschaulichen Haus in Morningside gehört zu werden. Der Aktenkoffer wurde auf dem Tisch neben der Tür abgelegt und geöffnet, ein Paar enge
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