Cut
am Hals stammen von Draht.»
«Sie waren also bei Bewusstsein und haben sich gewehrt, als er sie gequält hat», sagte ich.
Rauser nickte zustimmend, und einen Moment lang schwiegen wir und dachten darüber nach, versuchten, es uns nicht vorzustellen, und stellten es uns doch vor. Wir hatten beide zu viele Ermittlungen durchgeführt und zu viele Taten rekonstruiert, als dass wir die Bilder verdrängen konnten. Da gelang es uns schon eher, die Gefühle beiseitezuschieben.
«Hast du die Berichte zur Analyse ans FBI geschickt?», fragte ich.
Rauser nickte. «Und den Brief. Weiß, männlich, fünfunddreißig bis fünfundvierzig, intelligent, geht wahrscheinlich einer normalen Arbeit nach, alleinstehend, möglicherweise geschieden, in sexueller Hinsicht ein Jäger, lebt im Stadtbereich und arbeitet vielleicht auch dort.» Er ahmte einen militärischen Gruß nach. «Großartige Arbeit, FBI. Das engt die Suche auf ungefähr zwei Millionen Typen in dieser Stadt ein.»
«Er benötigt Zeit und Raum, um sich mit seinen Phantasien zu beschäftigen die der Antrieb für sein gewalttätiges Verhalten sind», sagte ich. «Deshalb nimmt das FBI an, dass er allein lebt. Und dem Brief zufolge macht er Fotos, um seine Phantasien zu beflügeln. Was er mit seinen Opfern anstellt, hat er sich vorher schon in allen Einzelheiten ausgemalt. Aber er möchte sich seiner Taten später vergewissern. Wahrscheinlich glaubt er, mit seinen Opfern irgendwie in Verbindung zu stehen. Gibt es Nebentatorte?»
Rauser schüttelte den Kopf. «Tatort und Fundort der Leichen decken sich in allen Fällen. Er quält und tötet sie direkt vor Ort. Was sagt das über ihn?»
«Er muss seine Opfer nicht an einen anderen Ort bringen, weil er weiß, dass er nicht gestört werden wird. Anscheinend hat er Vorkehrungen getroffen und weiß genau Bescheid überihre Tagesabläufe und die Nachbarschaft. Und er ist sich sicher, dass ihm seine Opfer die Tür öffnen.»
«Es gibt keine Hinweise auf Vergewaltigung, es gibt keine Spermaspuren, doch das FBI ordnet die Fälle als Sexualdelikte ein. Weshalb? Das steigert nur die Sensationsgier der Presse.»
«Na ja, das Zustechen ist normalerweise ein Merkmal von sexuell motivierten Taten.»
«Mein Gott!», stieß Rauser hervor und erschreckte mich. «Ich kann der Presse doch nicht erzählen, dass da draußen ein Lustmörder frei herumläuft.»
Ich schwieg, obwohl ich innerlich kein bisschen ruhig war. Tatortfotos stapelten sich auf meinem Schreibtisch, und Rauser schüttete Stresshormone aus und vergiftete die Atmosphäre. Wir waren noch nie gut miteinander klargekommen, wenn einer von uns gestresst war. Wir konnten uns wesentlich besser gegenseitig aufpeitschen als beruhigen. Wenn wir beide aufgekratzt waren, gab es normalerweise Streit.
Rauser schaute weg. «Ich komme nicht weiter, und du erzählst mir nur, was ich bereits weiß.»
Ich dachte über den höhnischen Brief und den Bericht des Gerichtsmediziners nach. Ich ertrug es schlecht, wenn Rauser von mir enttäuscht war. In seiner Gegenwart konnte ich mich ebenso wohl wie unwohl fühlen. Jetzt hatte er wieder die Vaterrolle eingenommen, und damit hatte ich schon immer Probleme gehabt. Mein Vater hatte in meiner Kindheit kaum je ein Wort an mich oder an ein anderes Familienmitglied gerichtet, und wenn doch, dann war es, als hätten sich die Wolken gelichtet und man wäre plötzlich in Wärme getaucht worden. Um dieses Gefühl wieder zu spüren, hatten sowohl mein Bruder als auch ich ständig versucht, ihn zu öffnen, und später war es mir mit Männern genauso gegangen. Meine Mutterhingegen war so gut wie nie still gewesen. Sie hatte reichlich Kritik und sparsam Lob verteilt, was unsere Macken nur verschlimmert hat.
«Man weiß von Gewalttätern, dass sie beim Zustechen Penetrationsphantasien haben. Der Theorie zufolge benutzt der Angreifer ein Messer als Ersatz für den Penis. Die Stichwunden erfolgen meistens im Genitalbereich des Körpers, und in manchen Fällen wird erst nach Eintritt des Todes zugestochen, es geht dabei also nicht darum, dem Opfer Schmerzen zuzufügen, sondern um etwas ganz anderes. Unter Kriminalpsychologen nennt man dergleichen regressive Nekrophilie.»
«Und weiter?», fragte er.
«Dass er dir jetzt schreibt, nachdem er sich so lange still verhalten hat, wenn er tatsächlich schon seit fünfzehn Jahren am Werk ist, dass er nun mit der Polizei spielt, bedeutet, dass er neue Herausforderungen sucht. Nur zu töten genügt ihm nicht
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