Cut
den Tatort zu Fuß, mit einem Taxi oder einem Bus verlassen. Rauser griff in Brooks’ Mantel und zog vorsichtig wie ein Dieb ein Portemonnaie aus der Brusttasche. «Na sieh mal an. Auf der Visitenkarte steht, dass er Anwalt war.»
Wir sahen uns an. Einen Moment später hatte ich mein Telefon hervorgeholt und weckte Neil. David Brooks warnicht der erste Anwalt unter den Opfern des Wunschknochen-Mörders. Es war die erste Gemeinsamkeit bezüglich der Auswahl der Opfer, die wir gefunden hatten. War dies das entscheidende Bindeglied, das uns der Lösung des Falles näherbrachte?
«Hey, Lieutenant», rief Detective Brit Williams. Er kam mit einer Zeitung näher. «Die Morgenausgabe», sagte er.
Rauser riss ihm die Zeitung aus der Hand, starrte einen Moment auf die Titelseite und reichte sie dann mir. «Immerhin waren sie dieses Mal so anständig, nicht alles zu bringen.»
Die Schlagzeile lautete: KENNEN SIE DAVID? NEUER BRIEF KÜNDIGT WEITERE MORDE AN .
13
E s war schon hell, als ich Spurensicherung und Ermittler am Ort des Mordes an David Brooks allein ließ. Ich hörte, dass sich Rauser beim Gerichtsmediziner lautstark darüber beschwerte, wie seine Angestellten mit der Leiche umgingen und den Tatort durcheinanderbrachten. Lieutenant Aaron Rauser hat einen sehr langen Tag vor sich, dachte ich. Tag drei, und David Brooks war tot. Tag drei, und die Zeitung hatte den zweiten Brief erhalten.
Die Uhr tickt, Lieutenant.
Ich nahm ein Taxi zurück ins Georgian. Der Mord und der zweite Brief waren das einzige Thema im Autoradio. Auch der Fahrer wollte darüber sprechen. Er hatte Angst um seine Sicherheit. Eigentlich könnte er seine Fahrgäste mittlerweile gut einschätzen, behauptete er, er wüsste, wen er mitnehmen könne und wen lieber nicht, wer ihn möglicherweise ausraubte und wer ihm vermutlich Trinkgeld gab. Jetzt wusste er nicht mehr, worauf er achten sollte, denn in den Nachrichten hieß es, der Mörder könne jeder x-beliebige Kerl sein.
Nachdem mich der Fahrer vor dem Georgian rausgelassen hatte, schleppte ich mich erschöpft ins Café neben der Lobby.
Auch im Fernseher, der dort lief, ging es nur um den Mord an Brooks, und während ich auf meinen extrastarken Milchkaffee wartete, starrte ich wie jeder in der Schlange gebannt auf den Bildschirm. Dass diese brutalen Morde offenbar wahllos begangen wurden, dass das Motiv unbekannt und der Täterdeshalb unberechenbar war und man sich nicht schützen konnte, schien jeden in Angst und Schrecken zu versetzen. Die Atmosphäre war düster und nervös. In einem Beitrag in den Regionalnachrichten sagte ein Kriminologe von der Georgia Southern University, niemand wisse, wer das nächste Opfer wäre, aber es würden bestimmt weitere Morde geschehen, und zwar bald. Es wurde eine Kontaktnummer für Jogger eingeblendet, die anstatt allein lieber in Gruppen laufen wollten. Eltern wurde geraten, an den Haltestellen gemeinsam mit ihren Kindern auf den Bus zu warten, Fahrrad- und Motorrollerfahrer wurde von dem Fahren in der Dunkelheit abgeraten. An den Bahnhöfen des Nahverkehrssystems war das Sicherheitspersonal verstärkt worden.
Was Verbrechen und Serienmörder angeht, hat Atlanta eine lange Geschichte. Black Butcher zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts; die Kindermorde in den siebziger und achtziger Jahren, als einundzwanzig Kinder und Teenager getötet wurden; Brian Nichols, dessen Gewaltorgie im Gerichtsgebäude von Fulton County begann und sich auf die Vorstädte ausdehnte; der Börsenspekulant Mark Barton, der seine Familie und seine Kollegen in Buckhead auslöschte; Bill Davis, verhaftet im November 2009, nachdem er im Laufe eines Jahrzehnts mindestens vier Menschen in seinem Viertel im Südwesten der Stadt ermordet hatte. Wir waren alle mit den Geschichten aus Atlantas gewalttätiger Vergangenheit aufgewachsen oder hatten davon gelesen, doch der jetzige Fall war etwas anderes. Dieser Mörder wandte sich an die Öffentlichkeit und beschrieb, wie er seine Opfer quälte. Er berichtete uns, dass er mit ihnen sprach und sie fragte:
Wie fühlt sich das an?
Dieser Einblick in seinen Umgang mit den Opfern und sein letzter Brief schienen die Anspannung in der Stadt eskalieren zu lassen.
Und als stünden wir nicht schon kurz vor einer Panik, musste die Fernsehsendung
Guten Morgen Amerika
auch noch Öl ins Feuer gießen.
«Der in Atlanta als Wunschknochen-Mörder bekannte Serienmörder hat erneut zugeschlagen, nachdem er in Briefen an die regionale Presse die Polizei
Weitere Kostenlose Bücher