Cut
durfte mir kein Geräusch und keine Bewegung in der Hütte entgehen. Manchmal denke ich, ich habe kein Herz, sonderneinen Eisklotz in mir. Aber wahrscheinlich hat jeder Ermittler eine kalte, voyeuristische Ader.
LaBrecques Gesicht war übel zugerichtet, blutverschmiert und beinahe unkenntlich. Eine Faust konnte solche Verletzungen nicht angerichtet haben. Ich betrachtete die Blutspuren im Zimmer. Spritzer an den Wänden, an der Decke und auf dem Boden. Und überall Tropfen, was auf einen schweren Schlag mit einem stumpfen Gegenstand mit ungeheurer Krafteinwirkung hinwies. Unter seinem Gesicht hatte sich eine Lache gebildet.
Ich hob sein Kinn vorsichtig an und drehte seinen Kopf. Da war es. Ein Einschlag direkt über der Schläfe, der zum Schädelbruch geführt haben musste. Weshalb diese Raserei? Ich dachte an Darya. War das die Verbindung? Hatten auch die anderen Opfer auf irgendeine Art andere Menschen misshandelt? Nur ein weiteres Opfer, das erste, von dem wir wussten, Anne Chambers, eine Studentin der Florida State University, hatte ähnlich viele Gesichtsverletzungen erlitten. Weshalb war der Mörder bei LaBrecque und diesem ersten Opfer so außer sich gewesen?
Als ich mein Telefon aus der Tasche zog und Rausers Nummer wählte, fiel mein Blick auf ein blutverschmiertes Nudelholz. Eine weitere Verbindung zu dem Fall in Florida. Auch dort hatte der Mörder einen Gegenstand als Waffe benutzt, den er am Tatort vorgefunden hatte. Vielleicht gab es dafür lediglich praktische Gründe. Ein Nudelholz hier, eine Lampe dort. Solche Dinge trägt man nicht unbedingt mit sich herum. Und noch etwas war interessant an diesem Tatort: Er war räumlich begrenzt. Die Tat hatte offenbar nur in diesem Zimmer stattgefunden, in den anderen Räumen gab es weder Blutspuren noch Unordnung. Hatte der Mörder LaBrecque hier schlafend angetroffen, betrunken am helllichten Tag, und ihnbewusstlos geschlagen, ehe er zu sich kommen konnte? Oder hatte es eine weitere Verführung gegeben? LaBrecque war vielleicht nicht der richtige Typ dafür, aber wer war das schon?
Rauser wollte sofort aufbrechen und von unterwegs die Mordkommission von Gwinnett County anrufen. Ich blieb dort, betrachtete LaBrecque und versuchte, mir den Tatort einzuprägen. Als ich Sirenen hörte, holte ich tief Luft, steckte meine Glock hinten in den Hosenbund, legte meine Hände hinter den Kopf und trat hinaus, um die Polizisten von Gwinnett County zu begrüßen, die keine Ahnung hatten, wer ich war.
16
I ch war erschöpft. Ich hatte Stunden am Tatort bleiben müssen und war schonungslos von den Polizisten vernommen worden, die überhaupt nicht verstanden, was ich dort verloren hatte und wie es sein konnte, dass ich als Beraterin in den Wunschknochen-Fällen tätig war und gleichzeitig einen Kautionsflüchtigen suchte, der nun mit ziemlicher Sicherheit das neueste Opfer dieses Mörders war. Ich versuchte so gut wie möglich, diese absurde Situation zu erklären, bis endlich Rauser am Tatort eintraf und mich rettete. Als kurz darauf auch Ken Lang und das Team der Spurensicherung auftauchten, wurde die Lage angespannt. Den Beamten aus Gwinnett County gefiel es nicht, die Polizei von Atlanta am Tatort zu haben, und Rauser wiederum war überhaupt nicht glücklich darüber, dass jemand anders die Spuren aufnehmen wollte. Am Ende einigten sie sich halbwegs, doch bis dahin herrschte offenes Kompetenzgerangel.
Erst am späten Nachmittag ließ man mich gehen. Die Cocktailstunde zerrt immer an mir, sie geht selten unbemerkt vorbei, und in diesem Moment war das Verlangen besonders groß. Rauser hätte es lieber gehabt, wenn ich am Tatort geblieben wäre, aber ich konnte dort nicht helfen und musste meine Firma über Wasser halten und mich um meine Aufträge kümmern. Außerdem war ich am Verhungern.
Ich rief Neil an. «Lust auf Frühstück?»
«Es ist nach fünf», antwortete Neil.
«Na und?»
«Harter Tag?», fragte Neil.
«Nicht im Waffle House», flötete ich, um ihn zu locken, denn ich kannte seine Schwächen ganz genau. Wenn es im Süden etwas Verlässliches gibt, dann ist es Waffle House. Dort bekommt man rund um die Uhr Eier, Speck, Waffeln und Kartoffelpuffer, die innen weichen, außen knusprigen und vor Öl triefenden Hash Browns. Würde man sie jeden Tag essen, brächten sie einen um. Aber hin und wieder geht nichts über ein paar Hash Browns mit Rührei und Käse, gebutterten Toastecken und einigen Bechern des dünnen Kaffees von Waffle House, der wie flüssiges
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