Cut
auf den Typen mit Dachschaden, der den ganzen Tag durch die Stadt radelte? Jeder und keiner. Ich musste an William LaBrecque denken, an das Nudelholz, an das zertrümmerte Gesicht, an die Blutlache unter seinem Kopf. Die Blutgerinnung hatte bereits eingesetzt, obwohl die Leiche noch nicht kalt war. Solche Dinge vergisst man nicht. Könnte Charlie LaBrecque ermordet haben, in einer solchen Raserei? Weshalb? Hatte Charlie die Striemen an meinem Handgelenk gesehen oder meine Notizen über den Vorfall in der Kirche gelesen, als ich LaBrecque das Unterlassungsurteil zugestellt hatte? Wenn einer die Vorstellung hat, der von ihm verehrte Mensch sei misshandelt worden, kann aus Liebe eine Obsession werden.War das der Hintergrund? Hatte Charlies Vernarrtheit in mich eine tödliche Wendung genommen? Heute hatte ich eine Seite Charlies erlebt, die mir vorher nicht bekannt gewesen war, eine gewalttätige und eifersüchtige Seite. Doch selbst wenn er LaBrecque umgebracht hatte, warum hätte er auch die anderen töten sollen? Fehlte mir einfach der Abstand, um das Motiv zu erkennen? Ich dachte an die Aggression, mit der mir Charlie heute begegnet war, daran, dass niemand auf ihn achtete, an seine Mobilität als Fahrradkurier, an seine regelmäßigen Besuche im Gericht. Doch das, was der Wunschknochen-Mörder getan hatte, hätte er nicht mit einem Fahrrad tun können. Das Gebiet war einfach zu groß. Die Morde beschränkten sich nicht nur auf die Stadtgrenzen. Versteckte Charlie irgendwo einen Wagen?
Ein Gedanke ließ mich abrupt innehalten. Charlie war gebildet. Er war einmal Ingenieur oder irgendein Wissenschaftler gewesen, hieß es. Charlie hatte einmal ein höchst funktionstüchtiges Gehirn gehabt, einen Job, eine Familie. Bis der Unfall sein Leben für immer verändert hatte. Und danach? Hatte es eine Klage gegen die Firma gegeben, deren Lkw ihn beinahe getötet hätte? War das Charlies Verbindung zum Justizsystem? Hatte es ein für ihn ungünstiges Urteil gegeben, hasste er all jene, die durch dieses System Vorteile haben? Könnte Charlie Ramsey, der Typ, der Stiefmütterchen klaute, um mich lächeln zu sehen, wirklich ein Mörder sein?
Ich schloss die Augen. Mein Hals schmerzte. Ich erinnerte mich, dass Neil zum Schluss gesagt hatte: «Ich habe ein bisschen rumgeschnüffelt und, äh, es gibt da ein paar Sachen, die du dir mal ansehen solltest. Ich schicke sie dir gleich.»
Ich schaltete meinen Laptop an und öffnete die Links und Anlagen, die Neil mir gemailt hatte. Gleich beim ersten Text stellten sich mir die Nackenhaare auf.
FOOTBALLSPIELER DER VERGEWALTIGUNG ANGEKLAGT. GEMEINDE GESCHOCKT.
Charlie Ramsey
,
Cornells Star-Runningback, und zwei seiner Mannschaftskollegen werden beschuldigt, Freitagnacht auf dem Ramsey-Anwesen in der Nähe von Ithaca eine Kommilitonin vergewaltigt zu haben. Für das Anwesen wurde ein Durchsuchungsbefehl ausgestellt, nachdem die Cheerleaderin von Cornell vor der örtlichen Polizei aussagte, sie sei vor dem Sexualverkehr unter Drogen gesetzt worden. In der Anzeige wurden zwei weitere Spieler genannt.
Der Artikel stammte aus dem Archiv einer Regionalzeitung und war über zwanzig Jahre alt. Ich schaute mir den nächsten an.
FOOTBALLSPIELER DER COLLEGELIGA DER NÖTIGUNG FÜR SCHULDIG BEFUNDEN . ANKLAGE WEGEN VERGEWALTIGUNG SOLL FOLGEN.
Die Überschrift des nächsten Artikels lautete: FOOTBALLSTAR VERLÄSST BIG RED FÜR EIN BIOPHYSIKALISCHES FORSCHUNGSPROGRAMM.
Dieser Artikel enthielt ein Foto. Es zeigte nicht den Charlie Ramsey, den ich kannte, doch gab es keinen Zweifel daran, dass es derselbe war. Er war kräftig und gut aussehend, lächelte, trug ein Footballtrikot und drückte einen roten Helm gegen seine Brust. Weitere Artikel beschrieben detailliert seine stürmische und manchmal von Gewalttätigkeit geprägte Karriere im College-Football. Dreimal wurde er in der Zeit wegen Vergewaltigung angeklagt – bei zwei Klagen kam es zu einem Täter-Opfer-Ausgleich, eine Anzeige wurde zurückgezogen – und zweimal wegen Nötigung, unter anderem, weil er an einer Ampel jemandem mit der Faust das Autofenster eingeschlagen hatte, was ihm achtzehn Stunden gemeinnützige Arbeit einbrachte.Neil hatte mir auch Kopien der Gerichtsunterlagen über den Vergleich zwischen der Universität und einer jungen Frau geschickt, die behauptete, Charlie habe sie bei einer Universitätsveranstaltung vergewaltigt, nachdem er von ihr abgewiesen worden war. Ein Jahr später war es zu einer Einigung zwischen
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