Cut
du, dass er tippen kann? Und wie, mit allen zehn Fingern! Manche Teile seines Gehirns funktionieren anscheinend noch ziemlich gut. Als er fertig war, habe ich gedacht, ich schaue mal, wo er im Internet unterwegs war. Nur so, aus Neugier. Aber das war gar nicht so einfach. Weißt du, wieso? Weil er den gesamten Verlauf und alle Cookies gelöscht hatte.»
Ich setzte mich aufs Sofa und schaute hinaus auf die Peachtree Street und das Fox. Es dämmerte, die Straßenlaternen sprangen an.
«Also, erstens», fuhr Neil fort, «der Kerl ist schlauer, als ich gedacht hatte, und zweitens, er wollte nicht, dass jemand erfährt, was er an deinem Computer gemacht hat.»
«Moment mal. Er war an
meinem
Computer?» Ich musste mich neulich auf allen Webseiten, die mein Computer eigentlich erkannte, zum Beispiel beim Online-Banking oder bei meinem E-Mail -Server, neu einloggen. Jetzt wusste ich, weshalb. Die Cookies waren gelöscht.
Neil zögerte. «Ja, deswegen wollte ich’s dir nicht erzählen. Ich dachte mir, dass du sauer bist. Aber ich arbeitete gerade an meinem Computer. Jedenfalls hat Charlie nichts Schlimmes gemacht. Er war auf einer Hotmail-Seite und bei ein paar Nachrichtenmagazinen.»
«Hast du dir die Seiten angeschaut? Erinnerst du dich, welche Artikel er gelesen hat?»
«Nein», sagte Neil.
«Könnte er in meinen Dokumenten gewesen sein?»
«Wenn sein Gehirn voll funktionstüchtig wäre, könnte dassein, denn du schützt deinen Kram ja nicht mit einem Passwort. Warum eigentlich nicht, Keye?»
Ich dachte an die E-Mail an Rauser mit meinem Namen in der Copyzeile, an das Gefühl, auf dem Flughafen beobachtet zu werden, an meine Akte, die einem Journalisten zugespielt worden war. Weshalb ich?
Weil der Mörder mich kennt, deshalb
. Deshalb wirkte mein Erscheinen am Tatort von Brooks’ Ermordung beunruhigend, und der nächste Brief wurde auch an mich geschickt. Jemand, der mich kennt, hatte mich dort gesehen oder mich im Fernsehen erkannt. Plötzlich wurde ich zur Gefahr. Deshalb hatte der Mörder alles unternehmen müssen, damit ich mit dem Wunschknochen-Fall nichts mehr zu tun hatte, deshalb hatte er meinen Ruf ruiniert, mich und die Polizei öffentlich bloßgestellt, mir durch das Lösen der Radmuttern Angst eingejagt und Rosen geschickt. Hatte Charlie deshalb auch an meinen Computer gewollt? Um herauszufinden, ob ich Notizen über die Ermittlungen hatte, ob er verdächtig war? Mein Puls raste.
War Charlie überhaupt dazu in der Lage, die Polizei so lange an der Nase herumzuführen? Um erfolgreich zu sein, muss ein Serientäter die Fähigkeit besitzen, sich völlig von seinem gewalttätigen Ich abzulösen und ein nach außen hin harmloses Leben zu führen. Heute hatte ich zum ersten Mal erlebt, dass Charlie eine gewalttätige Seite hatte. Ich hatte es in seinen Augen gesehen. Ich hatte ein sadistisches Vergnügen in ihnen erkannt, doch sein sonstiges Verhalten passte nicht zu dem kontrollierten Mörder, den wir suchten. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass er sich ein Leben wie das von Charlie als Tarnung wählte. Meiner Meinung nach war der Mörder eitel. Er wollte gebildet und erfolgreich wirken. Ganz anders als Charlie. Charlie rief Mitleid hervor. Mir war jedoch bewusst, dass ein Ermittler nicht der Versuchung erliegen sollte, die Ermittlungsergebnisseso zurechtzubiegen, dass sie irgendeiner Theorie entsprechen. Das wäre Dobbs’ Stil. Ich musste allen Beweisen gegenüber offen bleiben, unabhängig davon, ob sie mir gefielen oder nicht.
Also dachte ich noch einmal über die ganze Sache nach. Charlie hatte sich mit einem Trick Zugang zu meinem Computer verschafft. Er hätte Briefe und Dokumente finden können, hätte sie problemlos an seine eigene E-Mail -Adresse schicken und daraus genügend Informationen über mich zusammenstellen können, die einen Journalisten reizten, ausführlicher nachzuforschen. Charlie hatte die richtige Größe. Die Einstichwinkel aller Stichwunden hatten ergeben, dass der Mörder ungefähr eins achtzig groß sein musste. Charlie hatte damit geprahlt, gut mit einem Messer umgehen zu können, und zwar mit einem Fischmesser. Fischmesser haben meistens eine sägeförmige Klinge und ungefähr die richtige Länge. Ich hatte gesehen, wie Charlie, gemessen an seiner sonstigen Tollpatschigkeit, erstaunlich geschickt Feigen geschnitten hatte. Die Sache mit dem Messer und die Prahlerei passten ins Täterprofil. Die Menschen vertrauten Charlie. Er war frei und mobil. Wer achtete schon
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