Cut
aufgeben, dass ich diesenMann kannte, und anfangen, ihn mit den Augen der Ermittlerin zu sehen. Während Neil nach Mordfällen in New York gesucht hatte, hatte ich mir im Internet die Grundbucheintragungen von Fulton County angesehen und die Dokumente für dieses Reihenhaus gefunden. Ein Kreditgeber in der Stadt hatte das dreihundertvierzigtausend Dollar teure Haus mit Charlies Anzahlung von fünfzigtausend und der Bürgschaft einer Kanzlei namens Benjamin, Recworst, Stickler und Paille finanziert.
Ab elf Uhr fing ich an, mich zu langweilen. Mit einem Ohr hörte ich über Kopfhörer ein Hörbuch, um mich wach zu halten, mit dem anderen lauschte ich den Geräuschen der Nachbarschaft. Auf dem Beifahrersitz lagen die leeren Verpackungen von zwei Schokoriegeln. Ich hatte keine Ahnung, worauf ich vor Charlies Haus eigentlich wartete. Ich wollte nur ein Gefühl dafür kriegen, wo er wohnte. Doch jetzt war es schon spät. Ich rechnete nicht damit, dass noch etwas geschah. Morgen würde ich zu einer anderen Zeit kommen, um Charlies Alltag zu beobachten.
Am zur Edgewood Avenue gelegenen Eingang ging ein Licht an. Die Vorderseite der Reihenhäuser blickte auf die Dekalb Avenue, wo man nicht parken konnte. Die Tür öffnete sich. Ich nahm mein Fernglas. Charlie schob sein Fahrrad auf die Verandastufen. Ich zuckte zusammen. Seine Nase war bandagiert, ein weißes Heftpflaster klebte quer über dem Nasenrücken. Er drehte sich um und schloss die Tür ab, trug dann sein Rad hinunter und schob es ruhig und behände den Gehweg entlang. Mein Blutdruck stieg. Wo war der komische Gang geblieben oder die Angewohnheit, den Kopf zur Seite zu neigen? Wo waren all die Eigenarten geblieben, die uns den Eindruck vermittelt hatten, sein geschädigtes Gehirn sende falsche Signale aus? Vielleicht war das, was mit Charlie nichtstimmte, etwas ganz anderes, als wir geglaubt hatten. Sein Nuscheln war heute auch schon mal verschwunden, erinnerte ich mich.
Ich glaube, ich sollte dich genauso ficken, wie Mr. Mann dich fickt.
Er sprang auf sein Rad, bog nach rechts in die Elizabeth Street und fuhr Richtung Inman Park und Highland, von wo es nicht mehr weit ist zu meinem Büro. Wenn Charlie uns besuchte mit seiner quietschenden Hupe, war er nur fünf Minuten unterwegs gewesen. Und nicht, wie vermutet, aus einem Behindertenwohnheim gekommen. Nein. Jetzt erinnerte ich mich. Charlie hatte uns diese Vermutung selbst eingepflanzt. Eine weitere absichtliche Täuschung? Er hatte uns erzählt, dass seine Kirchengemeinde ihm den Job als Kurier organisiert hatte, und dann gesagt: «Sie kümmern sich darum, dass ich einen Platz zum Wohnen habe.»
Als ich sah, wie Balaki und Williams Charlie folgten, fuhr ich mit ausgeschaltetem Licht in die Parklücke, die sie frei gemacht hatten. Sie lag einen halben Block näher an Charlies Haus.
Auf der Dekalb Avenue zischte ein M ARTA -Zug vorbei, innen hell erleuchtet, sodass man die Silhouetten der Passagiere erkennen konnte. Wie viele stiegen wohl verängstigt an ihrer Haltestelle aus, weil ein Mörder in unserer Stadt sein Unwesen trieb? Jenseits der Gleise, am Rande von Cabbagetown, das im frühen zwanzigsten Jahrhundert ein Arbeiterviertel gewesen war, stand die riesige, alte Baumwollspinnerei, die wie fast alle alten Gebäude in Atlanta zu Lofts umgebaut worden war. In dem Viertel gab es viele moderne Restaurants, die frische Zutaten aus der Region verwendeten. Vor ein paar Jahren hatte ein Feuerwehrmann aus Atlanta die Cotton Mill Lofts berühmt gemacht, als ein riesiges Feuer ausgebrochen war und CNN ihn dabei gefilmt hatte, wie er, an einem Seil auseinem Hubschrauber direkt über den Flammen baumelnd, einen eingeschlossenen Kranführer aus seiner Kabine befreit hatte. Und vor kurzem hatte ein Tornado eine Schneise durch Atlanta geschlagen und die oberen vier Stockwerke der alten Spinnerei weggerissen.
Plötzlich klingelte mein Telefon.
Mein Gott
. Es war viel zu laut, Rausers
Dude Looks Like A Lady
jagte mir eine Höllenangst ein.
«Hör zu, wir wissen, dass er unterwegs ist. Wir sind dran, okay? Meine Leute haben dich übrigens gesehen. Keye, ein Augenpaar mehr kann nicht schaden, aber du darfst ihn nicht verfolgen, verstanden?»
«Verstanden», sagte ich, nahm meine Tasche, stieg aus und schloss leise die Wagentür.
«Ach ja, Dobbs hat seinen Rausch ausgeschlafen. Er glaubt, er hätte sich eine Erkältung eingefangen oder so. Armer Kerl», meinte Rauser lachend. «Er tut mir fast leid.»
«Können wir
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