Cvon (Ushovar-Zyklus) (German Edition)
Das Schwert lag kalt, schwer und bösartig an seiner Kehle. Die Spitze war irgendwo außerhalb seiner Sichtweite, aber er konnte sehen, dass sie das Heft mühelos in einer Hand hielt. Und was noch beängstigender war: Sie kniete mit einem Bein auf der Klinge, direkt über seiner Gurgel.
Kein Mensch konnte dieses Schwert mit einer Hand halten und erst recht nicht auf der scharfen Klinge knien ! Er blickte hinauf in ein Gesicht, dem nicht die geringste Regung anzusehen war. Weder Anstrengung, noch Aufregung oder Wut. Ihre Augen waren wie grünes Eis, das seine Seele erfrieren lassen konnte. Sein Blick fiel auf ihre unheimliche Gesichtsbemalung und einen makaberen Moment lang amüsierte ihn der Gedanke, dass sich seine Henkerin wenigstens gruselig für ihn zurechtgemacht hatte. Diese schwarze Maske unterstrich ihre Augen wie ... schwarze Maske? Siedend heiß brannten sich die Sätze der Prophezeiung, die er seit er denken konnte wieder und wieder auswendig gelernt hatte, in die Innenseite seiner Stirn.
„Eine große Kriegerin, deren Namen man nur geflüstert an den Feuern des Waldes hören wird. Eine Frau, an deren Härte er reifen und fast zerbrechen wird. Eine Frau, deren Maske schwarz wie Asche und deren Haut weiß wie Schnee sein wird. Er wird sie erkennen, wenn sie ihm bei ihrer ersten Begegnung das Leben schenkt.“
Wie gebannt starrte er sie an. Sie hatten der Falschen das Schwert gegeben, doch das Schwert hatte sie gefunden.
Im gesamten Lokal war es mucksmäuschenstill geworden. Man hätte eine Schabe rülpsen hören können. Die Anspannung war beinahe unerträglich. Doch sie sah ihn nur an und ließ die Sekunden an sich vorüberziehen. Warum sagte sie denn nichts? Dann wurde ihm klar, dass er es war, der etwas zu erklären hatte.
„Du bist die Wächterin“, brachte er mit trockener Kehle heraus. Außer einem kurzen Zucken ihrer Augenbrauen verriet nichts, dass sie ihn verstanden hatte. Er wollte noch etwas sagen, erklären, doch die kalten grünen Augen schienen seine Gedanken einzufrieren. Im Augenwinkel sah er seine Begleiter erstarrt an ihrem Tisch stehen. Doch nicht sie waren es, die sich einmischten, sondern der Wirt.
„Ganz recht, sie ist die Wächterin hier und ...“
„Halts Maul, Herncock.“ Ihre Stimme war ebenso kalt und klar wie ihr Blick. Trotz seiner unangenehmen Lage war Loric froh, nicht der Adressat dieser drei Worte gewesen zu sein. Herncock verschwand sofort aus Lorics Blickfeld. Doch ihr Blick blieb.
„Ich ... ich muss dir so viel erklären ...“, begann er und glaubte, so etwas wie die Andeutung eines Nickens zu erkennen. Doch bevor er seine Bemühungen, das unglaubliche Schwert von seiner Kehle zu bekommen, vertiefen konnte, flog die Tür mit einem lauten Knall auf, der die lastende Stille zerriss. Ein magerer kleiner Junge, mit derselben leichenhaften Gesichtsbemalung wie die über ihm kniende Wächterin, kam völlig außer Atem hereingelaufen.
„Cvon!“, rief er aufgeregt und ließ sich nicht dadurch beirren, dass die Angesprochene auf einem grünhäutigen Riesen kniete. Er nahm sich nicht einmal die Zeit, wieder zu Atem zu kommen, sondern keuchte gleich weiter: „Mynora ... sie ist ... sie braucht ...“
Die Angesprochene stand bereits bei dem Jungen. Lorics Angriff schien nicht nur zur bedeutungslosen Marginalie geworden zu sein; sie schien den Ork bereits vollkommen vergessen zu haben. Sie packte das Kind bei den Schultern und sah ihm fest in die Augen. Loric erhob sich vorsichtig, um sich nicht zu hastig wieder in Erinnerung zu bringen.
„Was? Was ist mit Mynora?“
„Sie ist unten ... Marktgasse ... bei dem Müll ... Hilfe ...“
Die Wächterin schien bereits genug gehört zu haben. Sie schob den Kleinen aus der Tür und lief hinaus in die Nacht.
Loric wusste, dass es für ihn kein Zögern geben konnte. Um schneller laufen zu können, riss er seine Streitaxt vom Gürtel und stürzte hinter ihr her. Ihr Schicksal war sein Schicksal. Jeder Gegner, dem sie sich dort draußen stellte, würde sich auch mit dem Ork auseinandersetzen müssen. Duice und Naginar folgten etwas zögernder, aber ebenfalls mit gezogenen Streitäxten.
Sie lief schnell und geschmeidig wie eine Kyalire durch die nächtlichen Straßen. Nur hier und dort erhellte ein Licht zaghaft die Dunkelheit, wie ein Hinweis darauf, dass diese Stadt noch nicht völlig ausgestorben war. Die Füße der Kriegerin schienen mit schlafwandlerischer Sicherheit den aufgeweichten Boden zu beherrschen.
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