Cvon (Ushovar-Zyklus) (German Edition)
Loric hatte selbst mit seinen in der Dunkelheit überlegenen Augen Mühe, die junge Frau nicht aus den Augen zu verlieren.
Gut fünf Minuten dauerte die rasende Jagd durch das nächtliche Vuna. Als die Schritte der Wächterin endlich langsamer wurden, stellte Loric wütend fest, dass er ihr Tempo auch nicht mehr lange durchgehalten hätte. Doch sie schien die körperliche Anstrengung kaum gespürt zu haben, oder sie war zu beschäftigt, um sich mit den Protesten ihres Körpers zu befassen. Sie überquerte einen kleinen Platz in gemäßigtem Laufschritt und sah gehetzt in kleine Gassen und Abzweigungen.
„Mynora?“ Ihre Stimme wurde geisterhaft zu Loric zurückgeworfen. Durch die hohlen Gassen klang der Ruf der Wächterin beinahe panisch, aber das war natürlich Unsinn. Irgendwo wurde ein Fensterladen geschlossen und verriegelt.
Als er sie beinahe eingeholt hatte, bog sie in eine abschüssige Gasse ein und zuckte zusammen, als sei sie geschlagen worden.
„Mynora!“
Diesmal war Loric sicher, Panik in ihrer Stimme gehört zu haben. Die Wächterin stürzte geradezu in die dunkle Häuserlücke und verschwand damit für einen kurzen Augenblick aus dem Blickfeld des Orks. Nach wenigen Schritten war es beängstigend still.
Als er die Häuserecke endlich umrundet hatte, kniete sie neben dem leblosen Körper einer jungen Menschenfrau. Die Freundin(?), Schwester(?) der Wächterin trug ebenfalls die makabere Gesichtsbemalung und war offenbar das Opfer eines widerlichen Verbrechens geworden. Ihre langen, wohl ehemals blonden Haare waren ihr büschelweise ausgerissen worden und im Schlamm zu braungelbem Gestrüpp erstarrt. Ihre Kleidung lag zu Lumpen zerfetzt in der Gasse und ließ keine Zweifel aufkommen, was man dem armen Ding angetan hatte, bevor man sie erwürgte. Loric fühlte, wie der Schreck ihm die Kehle zuzog.
Die Wächterin kniete mit aufgerissenen Augen neben ihr und schien nicht zu begreifen, was sie sah. Ihre Lippen bebten und formten tausend tonlose Worte. Doch nichts schien ihr Entsetzen auch nur annähernd beschreiben zu können. Einen schrecklichen Moment glomm Wahnsinn in ihren Augen auf, doch dann riss sie die Leiche in ihre Arme und begann auf sie einzureden. Sie weinte, schrie und bettelte, doch Loric verstand nichts als den Namen der Toten.
Der Ork fühlte ihren Schmerz beinahe wie seinen eigenen. Er spürte, dass nur wenige so tiefe Emotionen bei der Wächterin zu sehen bekamen und er einen Einblick in ihr sonst verborgenes Wesen erhielt. Und er fühlte sich schuldig dabei, sie so zu sehen. Es stand ihm nicht zu.
Entschlossen riss er sich von ihrem Anblick und seinen Gedanken los. Es war nicht auszuschließen, dass die Mörder noch in der Nähe waren. Es war seine Pflicht über sie zu wachen, so lange sie es nicht selbst konnte. Das ganze Ausmaß seiner bisherigen Unaufmerksamkeit entdeckte er erst, als die Gasse plötzlich dunkel wurde. Loric bekam noch mit einem Auge mit, wie über ihm ein Fensterladen geschlossen wurde. Es hatte offenbar Zeugen gegeben! Wie ehrlos waren diese barbarischen Wesen nur, wenn sie tatenlos zusahen, wenn einer jungen Frau so etwas Schreckliches angetan wurde? In Lorics Stamm hätte sich auch der älteste Greis lieber in Stücke schlagen lassen, als mit dieser Schande zu leben.
Auch Duice und Naginar trafen nun endlich schnaufend ein und rissen ihn erneut aus seinen Gedanken.
„Was ...“, brachte Naginar keuchend hervor, „ist denn passiert?“ Sogar für einen Ork waren seine Körperausdünstungen enorm. Der Spurt quer durch die Stadt hatte ihm offenbar alles abverlangt. Linkisch versuchte er, über Lorics Schulter einen Blick in die Gasse zu erhaschen, doch dieser schob ihn zurück.
„Später“, meinte Loric kategorisch. Es gab wirklich Wichtigeres zu tun, als die Neugier seiner Gefährten zu befriedigen.
„Aber ... die Frau ...“
„Ich sagte SPÄTER, klar?“ Naginar lieferte ihm mit seinem vor Anstrengung violett verfärbten Gesicht ein kurzes Blickduell, das er – wie immer – verlor. Duice betrachtete die beiden, als ginge ihn all dies nichts an. Wie immer wartete er einfach darauf, dass man ihm sagte, was zu tun war.
„Ihr lasst die Kleine in Ruhe“, begann Loric und konnte schon den Spott in Naginars Augen sehen. Immerhin hatte die „Kleine“ ihn vor noch nicht einmal zehn Minuten mühelos umgehauen. Doch Naginar war weise genug, seine Gedanken für sich zu behalten. „Aber es könnte sein, dass noch Abschaum in der Nähe ist. Seht euch
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