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Cyber City

Cyber City

Titel: Cyber City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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wie ein Prüfstein zu sein für etwas, das sich seiner geistigen Gesundheit näherte.
    Er schnitt die siebte Ziffer ein. Eine Zwei. Dann befeuchtete er seine Finger und wischte das Blut ab. Zu Beginn strömte es nach, aber nach dem fünften oder sechsten Male hob sich die frische Wunde sauber und rot gegen seine weiße Haut ab. Er sagte die Zahl mehrmals laut vor sich hin: »Eine Million dreiundfünfzigtausendneunhundertzwo.«
    Thomas erhob sich und schlenderte durch die Halle. Sein Körper spürte nur die Zeit, die er in ihn hineinschnitt; er wurde niemals müde oder hungrig oder auch nur unsauber – er konnte schlafen oder nicht, essen oder nicht, sich waschen oder nicht; nichts machte einen spürbaren Unterschied. Sein Haar und seine Nägel wuchsen nicht. Sein Gesicht alterte nicht.
    Vor seiner Bibliothek hielt er an. Er war davon überzeugt, daß er schon mehrmals alle Bücher zerrissen und weggeworfen hatte, aber irgendwie waren die Reste in seiner Abwesenheit jedesmal weggeschafft, die Bücher unversehrt ersetzt worden.
    Er betrat das Zimmer. Er warf einen Blick auf das Terminal in der Ecke. Das Objekt, das er am meisten von allen verabscheute; trotzdem, er hatte es nie geschafft, es zu beschädigen: schlagen, stoßen, biegen oder seiner Außenhaut auch nur einen Kratzer beibringen; es funktionierte sowieso nicht, unzerstörbar oder nicht.
    Er schlenderte von Regal zu Regal, aber er hatte jedes der Bücher bereits mehr als ein dutzendmal gelesen. Sie waren bedeutungslos geworden. Seine Bibliothek war gut bestückt. Er hatte die heiligen Schriften jeder Religion studiert: Die wenigen, die seinen Zustand halbwegs beschrieben, boten keine Hoffnung auf eine Änderung. In ferner Vergangenheit hatte er eine Phase durchgemacht, in der er seine Konfessionen wie im Fieber gewechselt hatte; er hatte zu jeder einzelnen Gottheit gefleht, die die Menschheit je erfunden hatte. Wenn er dabei auf die eine gestoßen war, die wirklich existierte – die eine, die für seine Verdammnis verantwortlich war –, dann war sein Flehen nicht erhört worden.
    Das einzige, was er nach seinem Tod nicht erwartet hatte, war Ungewißheit. Es hatte ihn zu Beginn tief erschüttert: in die Hölle verdammt zu sein, ohne auch nur einen Blick auf den Himmel zu erhaschen, der ihn verspotten würde – kein selbstgefälliges Ich-habe-dich-gewarnt von den Gläubigen, die auf ihrem Weg nach oben an ihm vorbeieilten, ganz zu schweigen von einer förmlichen Verhandlung vor dem Gott seiner Kindheit, in deren Verlauf jede auch noch so plumpe Versicherung sich als Absolute Wahrheit herausstellte und jede theologische Debatte ein für allemal beendet wurde.
    Seitdem war er zu der Überzeugung gekommen, daß es, wenn sein Zustand denn für die Ewigkeit und nicht mehr umkehrbar war, vollkommen gleichgültig war, welchen Namen der Gott trug, der es so gemacht hatte.
    Mit untergeschlagenen Beinen saß Thomas auf dem Fußboden seiner Bibliothek und versuchte, seinen Verstand zu klären.
    »Denk nach, denk nach. Aber schnell.«
    Anna lag vor ihm. Sie blutete und war ohne Bewußtsein. Die Zeit verging langsamer. Der Augenblick, in dem er sich ihr näherte, schien unerträglich. Es war unmöglich, ihn noch einmal zu durchleben – aber er rückte immer näher, und er wußte, daß er nicht die Kraft hatte, ihm auszuweichen.
    Irgendwann hatte er eingesehen, daß all seine Visionen von seinem eigenen Untergang und seiner Verstümmelung nichts weiter als ein Ausdruck seiner Abscheu vor sich selbst waren. Als sein Fleisch von seinem Körper abfiel, da war es nur eine Ablenkung gewesen, fast eine Erleichterung. All sein Leiden erhellte sein Verbrechen nicht, es ertränkte nur seine Gedanken in einem betäubenden Nebel. Eine Phantasie voller Eindringlichkeit, voller Vergeltung.
    Aber seine selbstgerechte Qual war kein Balsam, kein Vorwand für die barocken Foltern, irgendeine Alchimie der Gerechtigkeit in Gang zu setzen. Er kniete über Anna, konnte nicht weinen, konnte sich nicht entziehen – konnte sich nicht vor der Erkenntnis dessen blenden, was er getan hatte.
    Vielleicht hätte er den Notarzt rufen können. Es hätte vielleicht ihr Leben gerettet. So wenig Stärke wäre nötig gewesen, so wenig Mut, so wenig Liebe. Er konnte nicht verstehen, wieso ein menschliches Wesen zu wenig von all dem besessen haben konnte und trotzdem noch über die Erde spazierte.
    Aber er hatte zu wenig gehabt. Er schon.
    Er nahm ihren Kopf nach vorn und schlug ihn mit aller Kraft zurück

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