Cyber City
dann konnte er daran nicht das geringste ändern.
Dreihundertsieben Wortmeldungen folgten noch. Einhundertzweiundsechzig unterstützten Repetto, einhundertvierzig Sanderson. Fünf schwafelten, ohne auf die Tagesordnung einzugehen; ein bemerkenswert geringer Prozentsatz. Peer begann von dem Geräusch zu träumen, das Sandpapier auf Holz erzeugte.
Als endlich die Abstimmung erfolgte – eine Stimme für jeden original Anwesenden; Klone aus der Zeit während der Debatte wurden zurückgewiesen –, gewann Sanderson mit zehn Prozent Vorsprung. Sie begab sich erneut zum Rednerpult und dankte in einer kurzen Ansprache den Anwesenden, die für ihren Vorschlag gestimmt hatten. Peer hatte den Verdacht, daß sich mittlerweile ziemlich viele Elysianer aus ihren Körpern davongestohlen hatten und woanders hingegangen waren.
Auch Dominik Repetto meldete sich noch einmal zu Wort. Er war offensichtlich enttäuscht, aber ein guter Verlierer. Paul Durham – vermutlich sein Mentor und Förderer – zeigte den leicht leeren Gesichtsausdruck eines Quasikörpers ohne Quasigehirn. Seine Gesichtsmuskeln waren grob verzerrt. Durham – der Mann hatte eine eigenartige Geschichte aus kurzen Episoden als permutierende Kopie – schien sich nie auf der vorSTARTlichen Erde zurechtgefunden zu haben, und hier in Elysium war es nicht viel anders. Es war offensichtlich, daß er etwas zu verbergen hatte. Die Entscheidung hatte ihn hart getroffen.
Kühl sagte Kate: »Das war's. Du hast deine Bürgerpflicht erfüllt. Du kannst jetzt gehen.«
Peer machte seine Augen groß und dunkel. »Komm mit mir zurück in die Werkstatt. Wir könnten uns im Sägemehl lieben. Oder nur zusammensitzen und ein wenig reden. Glücklich sein, einfach so. Es wäre nicht das Schlechteste.«
Kate schüttelte nur den Kopf und löste sich auf. Peer fühlte einen enttäuschten Stich, aber das Gefühl legte sich schnell.
Er hatte Wichtigeres zu tun.
Es würde noch andere Gelegenheiten geben.
25
Thomas kauerte im Badezimmerfenster. Er hing halb aus Annas Wohnung. Diesmal wären die Kanten der Ziegelsteine schärfer als Rasiermesser, das wußte er. Er arbeitete sich zum Fenster der Nachbarwohnung vor, wiederholte präzise die vertrauten Bewegungen, obwohl das Blut in Strömen aus seinen Händen und Unterarmen floß. Insekten krochen über die Wunden und krabbelten auf seinen Armen, über sein Gesicht und in seinen Mund. Er würgte und spuckte, aber er schwankte nicht. Das Abflußrohr hinab. Als er unten angekommen war, ging er zurück in die Wohnung. Anna stieg neben ihm die Treppe hinauf. Sie tanzten erneut. Stritten erneut. Kämpften erneut.
»Denk nach, denk nach. Aber schnell.«
Dann hockte er sich über sie, die Knie rechts und links von ihr, nahm ihr Gesicht in beide Hände und schloß seine Augen. Er nahm ihren Kopf nach vorn und schlug ihn mit aller Kraft zurück gegen die Wand. Fünfmal. Ohne die Augen zu öffnen, hielt er die Finger vor ihre Nasenlöcher. Sie atmete nicht mehr.
Thomas war in seinem Frankfurter Apartment. Ein Monat war seit dem Mord vergangen. Er träumte. Anna stand neben dem Bett. Er streckte die Arme aus, in die Dunkelheit, die Augen geschlossen. Sie nahm seine Hand in die ihre. Mit der anderen Hand strich sie sanft über die Narbe an seinem Unterarm. Dann stieß sie mit ihrem Finger durch seine brüchige Haut und das sich verflüssigende Fleisch. Er taumelte zurück, warf sich auf das Bett, aber sie ließ nicht los. Ihre Finger gruben sich in sein Fleisch, bis sie die nackten Knochen fanden. Sie ergriff Elle und Speiche. Er krümmte sich vor Schmerzen. Plötzlich ejakulierte er. Alles, was in seinem verfaulten Körper war, kam hervor: dunkle Klumpen von Blut, Maden, Eiter, Exkremente.
Thomas war in seiner Vorstadtvilla. Nackt und verwirrt saß er auf dem Fußboden der Eingangshalle. Er bewegte die rechte Hand und merkte, daß sie ein Küchenmesser hielt. Dann erinnerte er sich, warum.
Auf seinem Unterleib waren sieben blasse Narben. Sieben Ziffern, noch immer erkennbar, und sie standen nicht auf dem Kopf, als er an sich heruntersah, um sie zu lesen: 1053901. Er begann, die ersten sechs mit dem Messer zu erneuern.
Er vertraute den Uhren nicht mehr. Sie logen. Obwohl mit der Zeit alle Narben, die er seiner Haut beibrachte, völlig verheilten, schien es eine Zeitlang, als könnte er es schaffen, die Zahl zu erneuern, bevor sie wieder verblaßte. Er hatte keine Ahnung, was sie bedeutete – nur daß sie stetig größer wurde. Sie schien
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