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Cyber City

Cyber City

Titel: Cyber City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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neunundzwanzig Tage mit dem Erfassen von Käfern verbracht zu haben, ließ ihn vollkommen kalt. Jegliche Leidenschaft, die er bei der Taxonomie kleiner Insekten hätte spüren müssen, war zusammen mit seinem Gedächtnis verschwunden – als hätte das gesamte Gedankenpaket jemand anderem gehört, der es nun wieder abgeholt hatte und damit verschwunden war.
     

28
    Im Lauf der Zeit begann die Stadt, sich in ihr Gehirn einzuprägen – jeder einzelne überwältigende Sonnenuntergang hinterließ sein Nachbild auf ihrer nicht-existierenden Netzhaut, jeder Ausflug, den sie unternahm, erweiterte den Stadtplan nicht-existierender Straßen in ihren nicht-existierenden Synapsen –, und Maria spürte, wie die alte Welt langsam in ihren Erinnerungen versank. Die Einzelheiten waren so klar wie zuvor, doch die Vergangenheit verlor ihre Macht, und ihre Bedeutung wurde stetig geringer. Nachdem sie den Gedanken aus ihrem Kopf verbannt hatte, um Leute zu trauern, die nicht gestorben waren – und die sie, Maria, nicht verloren hatten –, war scheinbar nur noch Nostalgie übriggeblieben … und selbst dieses Gefühl war von Widersprüchen durchsät.
    Sie vermißte Straßen, Orte, Gerüche. Manchmal war sie so wehmütig, daß es schon komisch wurde. Sie lag wach und dachte an die schäbigsten verlassenen Gebäude von Pyrmont oder den Gestank der Pappkartons voller Ersatz-Popcorn, der ihr aus den VR-Cafés auf der George Street entgegengeweht war. Sie wußte, daß sie ihr altes Haus rekonstruieren konnte, zusammen mit seiner Umgebung, zusammen mit ganz Sydney, und noch mehr – so detailliert sie wollte; sie wußte, daß jeder auch noch so geringe Schmerz über ihre amputierte Vergangenheit innerhalb von Sekunden geheilt sein konnte. Aber das Verstehen dessen, wie weit sie gehen konnte, reichte mehr als aus, um in ihr jeden Wunsch zu ersticken, auch nur einen Schritt in dieser Richtung zu unternehmen.
    Nachdem sie sich dazu entschlossen hatte, keine Anstrengungen zu Linderung ihres Heimwehs zu unternehmen, schien sie jedes Recht auf dieses Gefühl verloren zu haben. Wie konnte sie behaupten, so sehr nach etwas zu verlangen, das so einfach zu haben war – und es sich fortgesetzt selbst verweigern?
    Also versuchte sie, die Vergangenheit beiseite zu lassen. Sie begann, die Lambertianer gründlich zu studieren, um auf den Tag vorbereitet zu sein, an dem der Kontakt erlaubt werden würde. Sie versuchte, in die Rolle der legendären achtzehnten Gründerin einzutauchen, die aus ihrem jahrtausendelangen Schlaf erwacht war, um an dem triumphalen Augenblick teilzuhaben, wenn die Elysianer endlich der fremden Zivilisation Auge in Auge gegenübertreten würden.
    Lambertianische Gemeinschaften waren – ungeachtet äußerer Ähnlichkeiten mit terrestrischen sozialen Insekten – bei weitem komplexer und sehr viel weniger hierarchisch als Ameisenhaufen oder Bienenstöcke. Zum ersten waren alle Lambertianer gleich fruchtbar; es gab keine Königin, keine Arbeiter, keine Drohnen. Die Kinder kamen in Pflanzungen am Rand des jeweiligen Territoriums zur Welt, und sie wanderten nach dem Schlüpfen üblicherweise Hunderte von Kilometern weit und schlossen sich anderen Gemeinschaften an. Dort traten sie Arbeitsgruppen bei und entdeckten ihre Fertigkeiten – Milbenzucht, Verteidigung gegen Raubtiere oder Mitarbeit bei der Entwicklung von Theorien über ihr Sonnensystem. Die Spezialisierung war in der Regel eine Wahl für das ganze Leben, aber wenn Bedarf entstand, wechselten die Mitglieder verschiedener Arbeitsgemeinschaften auch schon einmal ihren Beruf.
    Lambertianische Gruppendynamik hatte eine lange Geschichte in ihrer Evolution, und sie blieb das treibende Element bei der Weiterentwicklung ihrer Kultur – weil individuelle Lambertianer rein physisch nicht imstande waren, die am meisten fortgeschrittenen Theorien und Modelle ihrer Welt zu erfinden, zu testen oder weiterzugeben. Ein Individuum konnte während eines erfolgreichen Tanzes genug über ein Modell lernen, um bei der nächsten Aufführung seine Rolle mit der eines anderen Individuums zu vertauschen – aber es würde niemals dazu fähig sein, die grundlegenden Schlußfolgerungen der entwickelten Ideen alleine zu ziehen. Die Sprache ihrer Tänze war ein Äquivalent zu menschlicher Schrift, formaler Logik, mathematischer Notierung und Berechnung, alles in einem, aber die grundlegenden Fähigkeiten waren angeboren, nicht erlernt. Die Tänze waren derartig erfolgreich – und so im Einklang mit

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