Cyber City
Synapsen zu identifizieren. Mit einer Kombination mehrerer Scanner konnte man dem lebenden Hirn alle für Bewußtsein und Psyche relevanten Daten entnehmen – und es, sofern man über einen entsprechend leistungsfähigen Computer verfügte, auch simulieren.
Man begann mit dem Modellieren einzelner Nervenbahnen, wie zum Beispiel Abschnitten des Sehnervs innerhalb des visuellen Cortex, soweit sie für das maschinelle Sehen von Bedeutung waren. Andere nutzten die neue Technik, um das rätselhafte, in seiner Rolle lange umstrittene limbische System zu erforschen. So hilfreich diese Modelle von Teilbereichen und Teilfunktionen des Gehirns auch waren, erst eine funktionsfähige Nachbildung des gesamten Organs – eine vollständige Computerrepräsentation, eingebettet in einen virtuellen Körper – hätte den Neurochirurgen und Psychopharmakologen wirkliches Neuland zu betreten erlaubt und ihnen gestattet, ihre kühnsten Träume zu verwirklichen.
Trotzdem vergingen noch Jahre, bis man sich an ein solches Modell wagte – zum Teil deshalb, weil man ein gewisses, vorerst nicht artikulierbares Unbehagen angesichts der Schwelle spürte, die man hier überschritt. Rechtliche oder politische Hindernisse gab es nicht, Behörden und Ethikkommissionen an Institutionen jeder Art waren vollauf mit dem Wohl und Wehe von Mensch und Tier beschäftigt, und kein einziger Brandanschlag eifriger Aktivisten auf ein Softwarelabor hatte den »inhumanen Experimenten an physiologischer Software« ein Ende zu bereiten versucht. Und doch: Auch unausgesprochene Tabus wollen überwunden sein, einer mußte sich finden, der den Anfang machte.
Einer, der mit einem hochauflösenden Scanner ein komplettes Gehirn kopierte, es zum Leben erweckte und sich anhörte, was es zu sagen hatte.
Der Mann hieß John Vines und war ein Neurochirurg aus Boston. Er hatte im Jahr 2024 eine mit Bewußtsein ausgestattete Kopie von sich selbst in einer – noch recht primitiven – virtuellen Umgebung zum Funktionieren gebracht. Die erste lebende Kopie benötigte für ihre ersten Worte knapp drei Stunden realer Zeit, und sie waren von Herzrasen, Hyperventilation und einem stark erhöhten Spiegel von Streßhormonen begleitet: »Ich fühle mich wie lebendig begraben … Ich will das nicht! Bring mich hier weg!«
Das Original folgte dem Wunsch der Kopie und schaltete ab. Vines wiederholte den Versuch einige Male, ohne jede Änderung – er glaubte, daß die Lage für die Kopie durch Wiederholung ein und derselben Simulation nicht schlimmer werden konnte.
Als das Experiment publik wurde, verlor niemand ein Wort über den Nutzen, den die Neurowissenschaften daraus ziehen konnten. Binnen kurzem jagte eine Schlagzeile die andere, und – ungeachtet der deprimierenden Äußerungen der Kopie – es war von nichts anderem als »Unsterblichkeit« die Rede, von einer Massenflucht in künstliche Welten, die die physische Welt bald leer und bar menschlichen Lebens hinterlassen würde.
Damals war Paul Durham vierundzwanzig Jahre alt, ein junger Mann ohne Pläne und ohne Idee, was er mit seinem Leben anfangen konnte. Ein Jahr zuvor war sein Vater gestorben und hatte ihm ein durchaus beachtliches Unternehmen – wozu auch eine florierende Ladenkette gehörte – hinterlassen; Paul hatte allerdings nicht das geringste Interesse, sich damit zu beschäftigen. Sieben Jahre lang reiste er durch die Welt, studierte dieses und jenes – Naturwissenschaften, Geschichte, Philosophie, und war mit allem, was er versuchte, leidlich erfolgreich. Aber es gelang ihm nicht, ein Thema zu finden, für das er sich mit allen Fasern seines Herzens begeistern konnte. Da er in gesicherten Verhältnissen lebte und es nichts gab, um das er hätte kämpfen müssen, war er auf dem besten Wege, träge und selbstzufrieden zu werden.
Die Nachricht von John Vines' Experiment riß ihn aus seiner Lethargie. Es war, als könnten mit einem Mal alle Verheißungen von Wissenschaft und Technik Wahrheit werden, als könnte das menschliche Dasein auf eine neue, höhere Ebene gehoben werden. Daß man nicht mehr an dieses kurze biologische Leben gebunden war, war doch nur der Anfang; einer Kopie boten sich für die geistige Entwicklung ungeahnte Möglichkeiten, die alles organische Leben weit hinter sich lassen würden: ein Geist, der sich selbst lenken und beeinflussen konnte, seine Ziele frei und unabhängig definieren, sich in endlosen Schritten transformieren konnte – wohin auch immer. Ein berauschender Gedanke –
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