Cyber City
Zahlenwerte von einem Augenblick zum anderen. Im festgelegten Zeittakt wurden die Daten, die sie definierten, neu berechnet, immer und immer wieder. Eine Momentaufnahme folgte auf die andere – wie die Einzelbilder eines Films oder einer Computeranimation.
Aber … wann genau entstanden aus diesen flüchtigen Einzelbildern Gedanken? Während der Computer sie errechnete? Oder vielleicht in den winzigen Pausen dazwischen, während sie – unverändert – gespeichert waren, festgefrorene, statische Augenblicke aus dem Leben der Kopie? Das mochte unerheblich scheinen, solange beide Zustände tausendmal in einer Sekunde subjektiver Zeit aufeinander folgten, aber bald schon …
Zschwitt. »Vierter Versuch. Zeitauflösung fünfzig Millisekunden.«
Was bin ich? Die Summe der Daten? Der Rechenvorgang, der sie erzeugt? Die Beziehung der Zahlen untereinander?
All das zusammen?
»Einhundert Millisekunden.«
»Eins … Zwei … Drei …«
Argwöhnisch achtete Paul auf jedes Wort, während er zählte – als erwarte er halb, wie sich nun Leere ausbreitete und in alles hineinfraß, was er sagte und dachte. Lücken zwischen Sein und Nichtsein, die nun immer größer werden würden.
»Zweihundert Millisekunden.«
Eine fünftel Sekunde. »Eins … Zwei …« Oszillierte er jetzt zwischen Leben und Tod, mit einer – subjektiven – Frequenz von fünf Hertz? Das war weniger als die Bildfrequenz auch des primitivsten Zelluloidfilms. » … Drei … Vier …« Er schwenkte die Hand vor seiner Nase; die Bewegung erschien ihm völlig gleichförmig, absolut normal. Und wie hätte es anders sein können, solange er sich nicht von draußen, von außerhalb des Bezugssystems, beobachtete. » … Fünf … Sechs … Sieben …« Ein kurzer, heftiger Schwindel überkam ihn, doch kämpfte er dagegen an und zählte tapfer weiter. » … Acht … Neun … Zehn.«
Der Dschinn erschien auf dem Schirm, das Zwitschern war kürzer als sonst und klang besorgt. »Was ist los? Willst du lieber eine Pause machen?«
»Nein, es geht schon.« Paul blickte in dem so vertrauten, von der Sonne mit hellen Klecksen und Streifen überzogenen Zimmer umher und lachte. Was würde Durham machen, wenn er gerade von der Zweitversion und der eigentlichen Kopie verschiedene Antworten bekommen hätte? Er versuchte sich zu erinnern, was im Plan für einen solchen Fall vorgesehen war – es gelang ihm nicht. Aber was machte das schon – das war nicht mehr sein Problem.
Zschwitt. »Siebter Versuch. Zeitauflösung fünfhundert Millisekunden.«
Paul zählte – und fühlte sich, wenn er ehrlich sein sollte, nicht anders als vorher. Ein wenig unbehaglich, aber wenn er seine nervöse Ängstlichkeit ausklammerte, hatte sich an seinem Befinden und seiner Wahrnehmung nichts geändert. Wie hätte es anders sein können? Alles, was das Modell ausmachte, war noch da, nichts fehlte. Sein Quasigehirn wurde in Abständen von einer halben Sekunde neu berechnet, mit allen Details, und in dieser Berechnung war auch alles enthalten, was in der Zwischenzeit »passiert« war. Alle halbe Sekunde stellte sich ein neuer Zustand ein, der genau jenem entsprach, zu dem es sich auch ohne die Lücken, die Wurmlöcher in seiner Existenz, entwickelt hätte.
»Eintausend Millisekunden.«
Aber … was geschah eigentlich während dieser Intervalle? Die Gleichungen, die das Modell beschrieben, waren viel zu umfangreich, als daß sie in einem einzigen Schritt zu lösen waren. Unmengen von Zwischenergebnissen wurden auf dem Lösungsweg berechnet und wieder verworfen. In gewisser Weise verkörperten diese vorläufigen Daten – auch wenn sie nicht als gültige Beschreibung des Modells anzusehen waren – das »Leben« der Kopie während der Zeiträume zwischen jeweils vollständigen Lösungen. Und wer hätte bei einem Modell, in dem so vieles willkürlich festgelegt, nach Belieben zugeordnet war, sagen können, daß dieses »vorläufige« Leben weniger »real« war als jenes, das auf den in regelmäßigen Abständen errechneten Endergebnissen beruhte?
»Zweitausend Millisekunden.«
»Eins … Zwei … Drei … Vier …«
Wenn es ihm schien, als würde er jede dieser Zahlen aufsagen (und sich dabei sprechen hören), dann deshalb, weil jeder Zustand des Modells eine Fortschreibung des vorangegangenen war – der Übergang vom Zeitpunkt »Zwei« zum Zeitpunkt »Vier« also das Aufsagen von »Drei« (und es sich sagen zu hören!) implizit voraussetzte.
»Fünftausend Millisekunden.«
»Eins …
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