Cyber City
von der Stelle, an der er sich jetzt befand, dann war der Abstieg alles, woran er sich erinnern konnte – ewiges, nur von Ruhepausen unterbrochenes Hinabsteigen. Und obwohl seine Gedanken umhergewandert waren, hatte seine Aufmerksamkeit nie nachgelassen. Seine Vergangenheit erstreckte sich endlos hinter ihm, aber seine Erinnerung war an keiner Stelle abgerissen, dehnte sich zeitlos bis in die fernste Vergangenheit – und doch konnte er alles mit seinem endlichen Verstand fassen.
Es gab so etwas wie eine geistige Perspektive, eine Gesetzmäßigkeit, die ihn vor der Last der Erinnerungen beschützte – die um so schwächer wurden, je länger sie zurücklagen.
Außerdem hatte er seine Dunklen Erinnerungen aus der Zeit vor dem Abstieg. Erinnerungen, die er nicht nahtlos mit der Gegenwart verbinden konnte, obwohl ihre Existenz spürbar war, ein Hintergrund, auf dem seine Erfahrungen aufbauten. Er wußte, wer er gewesen war und was er in jener Zeit gemacht hatte, vor der Zeit, in der er sich jetzt befand.
Peer war erschöpft gewesen, als er die Pause eingelegt hatte, doch schon nach einer Minute fühlte er sich tatkräftig und frisch wie immer. Damals, während der Dunklen Zeit, als er sich vorbereitete, hatte er alle erdenklichen Wünsche editiert – und die Bedürfnisse nach Nahrung, Schlaf, Sex, Freundschaft, selbst das Bedürfnis nach landschaftlicher Abwechslung vollkommen gelöscht. Er hatte sein Exo-Selbst so programmiert, daß es diesen Instruktionen gehorchte. Das unbewußte Exo-Selbst, immer zugegen und dominierend, jederzeit bereit, auf sein Quasigehirn zuzugreifen und es fein abstimmend zu regulieren.
Zufrieden setzte er seinen Abstieg fort – ein zufriedener Sisyphus, der um so glücklicher wurde, je länger es dauerte. Noch immer war die Wanderung über das glatte Spiegelglas des Wolkenkratzers das freudigste, erregendste Erlebnis, das er sich vorstellen konnte: die Sonnenwärme, die die Wand auf ihn zurückstrahlte, die überraschend kühlen Windböen, das leise Quietschen und Knarren von Stahl und Beton. Aufregung und Ruhe, Ermüdung und Erholung, in unaufhörlichem Wechsel. Bewegung als Selbstzweck. Ein Hauch von Ewigkeit.
Wolkenkratzer, Erde, Himmel und sein Körper verschwanden. Auf Gesichts- und Hörsinn eingeschränkt, fand Peer sich plötzlich in seinem Bunker, einem dunklen Gewölbe, wieder, vor einer Reihe von Bildschirmen. Einer davon zeigte Kate – zweidimensional, schwarzweiß, ein erstarrtes Bild bis auf die Bewegung der Lippen.
»Du hast den Schwellenwert verdammt hoch angesetzt«, sagte sie. »Du hättest vielleicht erst in zehn Jahren wieder etwas gehört, wenn ich dich nicht zurückgerufen hätte.«
Peer gab ein Grunzen von sich. Einen Moment lang war er irritiert, daß die sensorische Rückmeldung von Mund und Kehle fehlte. Er warf einen Blick auf einen benachbarten Schirm – der allein durch seine Absicht, die Augen dorthin zu bewegen, ins Blickfeld gerückt wurde. Er zeigte das sich stetig ändernde Verhältnis von Bunkerzeit zu Echtzeit an.
Den Bunker als eine Art Beobachter wahrzunehmen – »dortsein« wäre eine Übertreibung gewesen – war vom Rechenaufwand her der einfachste Zustand, den eine Kopie einnehmen konnte – wenn man vom Verlust des Bewußtseins absah. Peers Körper wurde nicht mehr simuliert; sein Quasigehirn stützte sich nur auf die unbedingt nötigen Elemente, die als abstraktes neuronales Netzwerk gespeichert waren, eine Ansammlung schematisierter Schaltkreise, von denen niemand eine Ähnlichkeit mit physiologischen Organsystemen erwartet hätte. Er war nicht oft in diesem Zustand, aber trotzdem war die Bunkerzeit eine vernünftige Basis für einen Vergleich. Im optimalen – und eher seltenen – Fall, daß er seine Prozessoren nur mit zwei oder drei anderen Benutzern teilen mußte, sank der Verlangsamungsfaktor der Bunkerzeit auf etwa dreißig. Und schlimmstenfalls? Bis vor wenigen Minuten (Echtzeit) hatte der schlimmste Fall tatsächlich stattgefunden: Die Kurve auf dem Diagramm war über einen großen Abschnitt bis auf Null gesunken. Zehn Stunden lang hatte es keine einzige Rechenoperation gegeben, hatte er nicht existiert.
Kates Stimme drang in seine Gedanken: »Projekt Schmetterling. Die Simulationen zur Wetterkontrolle. Diese Wichser haben alles weggerafft.«
Sie klang wütend und verstört. Peer sagte gelassen: »Kein großer Verlust. Bürger der Solipsistischen Nation zu sein bedeutet, in einer eigenen Welt mit ihren eigenen Gesetzen zu
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