Cyber City
Ballast hinter sich lassen sollte. Gegen ein Fenster mit Blick über die Stadt war sicher nichts einzuwenden – aber sich auf dem Weg in sein Büro durch simulierte Menschenmengen zu bewegen, erschien ihm reichlich grotesk; und tatsächlich, nachdem er es einige Male versucht hatte, empfand er es auch als unangenehm. Es erinnerte ihn zu sehr an das Leben – und an seinen Traum, eines Tages wieder unter den Menschen zu sein. Natürlich, er würde sich mit der Zeit an solche Illusionen gewöhnen – aber auf keinen Fall wollte er auch noch selbst dazu beitragen. Wenn es eines Tages soweit war und er über einen Telepräsenzroboter verfügte, der wie sein früherer Körper aussah und ebenso schnell agierte – wenn er wirklich wieder Eisenbahn fuhr und durch die Straßen spazierte –, dann sollte dieses wunderbare Erlebnis nicht durch die Erinnerung an viele Jahre perfekter Imitation getrübt werden.
Er hatte nicht den Wunsch, sich selbst Normalität weiszumachen – aber abgesehen von seiner Weigerung, sein altes Leben bis hin zur Parodie nachzuahmen, war es schwierig für ihn, festzulegen, was er damit meinte. Er schreckte vor dem Gedanken zurück, daß sich Türen wie von Geisterhand vor ihm öffneten oder er sich jederzeit allein durch Fingerschnippen an einen anderen Ort teleportieren konnte. Die grenzenlosen Möglichkeiten der Virtuellen Realität anzuerkennen und davon Gebrauch zu machen wäre das Ehrlichste gewesen … aber Thomas brauchte eine Welt mit dauerhafter Struktur um sich herum, kein Traumland, das auf ein bloßes Wort von ihm eine neue Gestalt annahm.
Mit der Zeit hatte er seinen Kompromiß gefunden; er hatte sich eine Geographie – oder besser: Architektur – für das Frankfurt, in dem er lebte, ausgedacht. Eine höchst private Geographie – alle Gebäude, die er benutzte, waren wie Pappkartons übereinandergestapelt. Ein einziger Fahrstuhl genügte, um sie miteinander zu verbinden. Sein Haus in der Frankfurter Vorstadt befand sich sechzehn Stockwerke über seinem Büro im Stadtzentrum. Dazwischen waren Konferenzräume, Restaurants, Galerien und Museen. Nachdem er sich eingerichtet hatte, betrachtete er seine Welt als unveränderlich – und wenn die Aussicht aus den Fenstern dieser Gebäude der Geographie widersprach, dann war das ein unvermeidliches Paradoxon, mit dem er leben konnte.
Thomas verließ den Fahrstuhl und betrat die Diele im Erdgeschoß seines Hauses. Er bewohnte das zweistöckige Gebäude, umgeben von einem zehn Hektar großen Garten, alleine – wie er das Original nach seiner Scheidung alleine bewohnt hatte, bis hin zu jenem Tag, als sich wegen seiner tödlichen Krankheit ein Ärzteteam bei ihm einrichtete.
Zuerst hatte es auch noch Putzroboter gegeben, die unnötigerweise durch Flure glitten, und Gartenroboter, die emsig Blumenbeete versorgten – er hatte sie als Teil seiner Architektur betrachtet, wie die Abflußrohre und die mit Gittern verkleideten Schächte der Klimaanlage und was es sonst an Überflüssigem gab. Die Roboter hatte er nach der ersten Woche gelöscht. Die Abflußrohre blieben.
Das Schwindelgefühl hatte sich wieder gelegt, aber Thomas marschierte geradewegs in die Bibliothek und schenkte sich aus zwei Kristallkaraffen ein Glas voll: eine wohltuende Mischung aus Selbstvertrauen und Zuversicht. Ein einziges Wort hätte genügt, eine ganze Schalttafel aus dem Nichts vor ihm erscheinen zu lassen – die Apparatur erinnerte ihn stets an das Mischpult eines Tonstudios –, und nichts wäre einfacher gewesen, als mit ein paar Handgriffen die Justierung so zu verändern, daß er seine gewünschte Stimmung erlebte. Thomas fand es zu ernüchternd, sein Bewußtsein mit nackter Technologie zu manipulieren. Es war natürlicher, bewußtseinsverändernde Drogen einzunehmen – die absolut präzise und ohne jede Nebenwirkung arbeiteten, im Gegensatz zu den Pharmaka, die die reale Chemie zu bieten hatte. Man fühlte sich viel mehr als Mensch, wenn man einige Schlucke eines geistigen Getränks zu sich nahm (das diese Bezeichnung auch verdiente), statt an einer Schalttafel herumzudrehen.
Auch wenn das Ergebnis dasselbe war.
Als der Drink zu wirken begann, sank Thomas in einen Sessel. Die Wirkung trat wie gewünscht schrittweise ein, und ein angenehmes Wärmegefühl breitete sich in seinem Magen aus, bevor sein Quasigehirn sanft manipuliert wurde. Jetzt war er bereit, über das nachzudenken, was dieser Paul Durham gesagt hatte.
Sie müssen mich Ihnen zeigen lassen,
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