Cyber City
würde sie ihre Kleider zerreißen, sich die Haare ausraufen, sich verstümmeln. Sie bearbeitete die Wand, bis sie außer Atem war und der Schweiß ihr über Gesicht und Nacken lief. Ihr Gesicht war hochrot geworden und brannte auf eine Weise, die sie seit den Wutanfällen ihrer Kindheit nicht mehr gespürt hatte. Mit dem Handrücken hatte die Mutter ihre Wange gestreichelt, die Tränen der Wut abgewischt. Die kühle Haut, der Trauring an ihrem Finger. »Ganz ruhig. Schau, was du dir antust! Du wirst noch verbrennen, so heiß bist du!«
Nach einer Weile hatte sie sich beruhigt und hörte, wie oben noch immer eine Nachricht abgespielt wurde. Der Absender hatte den Brief so programmiert, daß er sich wiederholte, bis der Empfänger reagierte. Sie setzte sich auf den Küchenboden und lauschte.
»Mein Name ist Paul Durham. Ich habe Ihren Artikel in der Autoverse Review gelesen. Ihr Experiment mit A. lamberti hat mich sehr beeindruckt. Wenn Sie eventuell interessiert sind, weiter an dieser Sache zu arbeiten – vielleicht im Rahmen eines Forschungsauftrags –, dann rufen Sie mich unter dieser Nummer an und lassen Sie uns die Angelegenheit besprechen.«
Maria mußte sich die Nachricht noch drei weitere Male anhören, bevor sie sicher war, richtig verstanden zu haben. Weiter daran arbeiten … Forschungsauftrag … Ihr Anrufer hatte eine Formulierung gewählt, die bewußt vorsichtig, fast verschämt und mißverständlich klang, aber letzten Endes konnte es nur eines bedeuten:
Irgendein Idiot bot ihr Arbeit an.
Als Durham um ein persönliches Treffen bat, war Maria viel zu überrascht, um abzulehnen. Er wohne im Norden Sydneys, hatte er gesagt, und er schlug vor, daß sie sich am nächsten Morgen im Zentrum, im Café an der Market Street trafen. Maria hatte keine passende Ausrede zur Hand und nickte nur – froh darüber, vor dem Anruf eine Softwaremaske zwischengeschaltet zu haben, die jede Spur von Unsicherheit aus Gesichtsausdruck und Stimme filterte. Ein Bewerbungsgespräch war bei den meisten Programmieraufträgen so unüblich, daß sie kaum jemals auch nur am Telefon die Bekanntschaft eines Arbeitgebers gemacht hatte. Die Anwerbung war eine Sache zwischen Computer und Mailbox. Sie basierte lediglich auf einem Kostenvoranschlag und einer Liste der bisher bearbeiteten Aufträge. Als Maria sich das letzte Mal persönlich vorgestellt hatte, war das bei einer Stelle als Putzhilfe während ihres Studiums gewesen.
Nachdem die Verbindung abgebrochen war, fiel ihr auf, daß sie noch immer nicht wußte, was dieser Durham von ihr wollte. Es war denkbar, daß ein Autoversum-Süchtiger Geld für das Privileg zur Verfügung stellte, mit ihr zusammenarbeiten zu dürfen – auch wenn seine Mitarbeit nur aus dem Bezahlen der Rechenzeit bestand und die Gegenleistung in seiner Erwähnung als Co-Autor in ihren Veröffentlichungen. Das würde es sein.
Sie lag die halbe Nacht wach, ließ sich das Gespräch immer wieder durch den Kopf gehen – grübelte, ob sie vielleicht einen verräterischen und offensichtlichen Hinweis übersehen hatte. Ob es ein Scherz war? Kurz vor zwei Uhr stand sie auf und durchforstete die Autorenverzeichnisse von Autoverse Review und einigen anderen, themenverwandten Zeitschriften. Ein Verfasser namens Durham hatte noch nirgendwo einen Artikel publiziert.
Um drei gab sie die Suche auf und konnte mit einiger Mühe sogar einschlafen. Sie träumte, noch immer wach zu sein, weil die unguten Neuigkeiten von ihrer Mutter ihr den Schlaf raubten – bis sie ärgerlich merkte, daß es ein Traum war und dieser Beweis für ihre Liebe zur Mutter nichts weiter als eine Illusion.
8
(Vergib nicht den Mangel)
November 2050
Thomas Riemann nahm den Fahrstuhl vom Büro zu seiner Wohnung. In seinem Leben hatte das noch eine zehnminütige Fahrt mit der S-Bahn erfordert, doch nach fast vier Monaten subjektiver Zeit war die Abkürzung zur Gewohnheit geworden. Heute machte er sich auf die Fahrt nach oben, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden.
Wieder einmal ließ er den Blick bewundernd über die Eichentäfelung schweifen und sich vom leisen Summen des Liftmotors einlullen. Auf halber Höhe überkam ihn aus heiterem Himmel ein Schwindelanfall, als wäre dieser hölzerne Sarg unvermittelt in freien Fall übergegangen.
Gleich nach seiner Wiederauferstehung hatte er begonnen, sich unablässig den Kopf zu zerbrechen, welche Gewohnheiten aus seiner Vergangenheit er implementieren und welche er als
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