Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cyber City

Cyber City

Titel: Cyber City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
Vom Netzwerk:
Treppe hinab und wanderte um den Block – vielleicht half ihm das, wenigstens für eine Weile Vergessen zu finden. Er war des ewigen Nachdenkens müde, der bohrenden Frage in jeder wachen Sekunde: Wer bin ich ? Die Straßen um das Haus, in dem er wohnte, waren vertraut genug – nicht um ihn über sich selbst hinwegzutäuschen, sondern um ihm das Gefühl zu geben, einfach da zu sein.
    Es war nicht einfach, Tatsachen und Gerüchte auseinanderzuhalten, aber er hatte gehört, daß sogar die Superreichen es vorzogen, in einer gewohnten oder doch alltäglichen Umgebung zu leben, dem Realismus den Vorzug gaben vor Machtphantasien. Angeblich gab es Psychopathen, die sich in ihre eigene Welt zurückgezogen hatten und dort als allmächtige Diktatoren in prächtigen Palästen hausten, wo sie von vorn und hinten bedient wurden. Die meisten Kopien waren mit der Illusion zufrieden, ihr früheres Leben fortzusetzen. Wenn man sich verzweifelt einreden wollte, daß man die Person war, der die Masse der gespeicherten Erinnerungen gehörte, dann gab es nichts Schlimmeres, als sich (mit Mod-Konsole) in einer künstlichen Antike aufzuhalten und Cleopatra oder Ramses II zu spielen.
    Paul bildete sich nicht ein, das Original zu sein. Er war nur eine Ansammlung von nüchternen Daten. Das Wunder war, daß er überhaupt an seine Existenz glauben konnte.
    Woher kam dieses Gefühl von Identität?
    Kontinuität. Konsistenz. Ein Gedanke folgte dem nächsten, in einem zusammenhängenden Muster.
    Wodurch entstand dieses Muster?
    Bei einem Menschen (und auch einer Kopie, die auf die übliche Weise betrieben wurde) verlangte die Physik des Gehirns oder des Computers, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt  jeder  Bewußtseinszustand  auch  den  darauffolgenden Bewußtseinszustand beeinflußte. Die Kontinuität folgte einfach dem Gesetz von Ursache und Wirkung. Die Gedanken zum Zeitpunkt A beeinflußten die Gedanken zum Zeitpunkt B beeinflußten die Gedanken zum Zeitpunkt C beeinflußten die Gedanken …
    Aber wenn in der subjektiven Zeit nicht mehr Schritt auf Schritt folgte, dann hatte die Abfolge von Ursache und Wirkung beim Rechenvorgang des Computers nichts mehr mit den Abläufen seines Bewußtseins gemein – wie konnte dann überhaupt ein Bewußtsein entstehen? Wenn das Programm sein Leben als DBCEA berechnete, wie konnte es ihm dann als ABCDE erscheinen …? Weil es nur auf das Muster ankam und Ursache und Wirkung keine Rolle spielten? Was er als Bewußtsein empfand, konnte ebensogut durch rein zufällige Daten erzeugt werden.
    Angenommen, man überließ einen Computer mit willkürlich vernetzten Schaltkreisen tausend Jahre oder länger sich selbst … ließ ihn eine Art Rauschen produzieren, von einem zufälligen Zustand in den nächsten springen. Konnte so Bewußtsein entstehen?
    In der realen Zeit wohl nicht – die Wahrscheinlichkeit, daß zufällig ein kohärentes Muster entstand, war einfach zu gering. Aber die reale Zeit war nicht der einzig mögliche Bezugsrahmen. Wie sah es mit den übrigen aus? Wenn die einzelnen Zustände des Computers in ihrer zeitlichen Reihenfolge nach Belieben angeordnet werden konnten, ließ sich dann ausschließen, daß ein sinnvolles Muster, ein hoch geordneter Zustand aus dem Chaos entstehen konnte?
    Paul hielt inne. War das dummes Zeug? War das so absurd wie die Behauptung, in jedem Käfig voller Affen und Schreibmaschinen würden, wenn es nur genug davon gab, Shakespeares sämtliche Werke getippt – man müßte nur die Buchstaben in die richtige Reihenfolge bringen? So absurd wie die Idee, daß jede genügend große Anhäufung von Marmorblöcken auch Michelangelos David enthielt und jedes Lagerhaus voll Farben und Leinwand die Werke von Rembrandt und Picasso – nicht in irgendeiner latenten Form, als Vorstufe, die einer geschickten Hand bedurfte um Gestalt anzunehmen, sondern einzig und allein durch Neudefinition der Koordinaten von Raum und Zeit?
    Wenn man es auf Statuen und Gemälde anwandte, dann war es ein Witz, zweifellos. Wo blieb der Beobachter, der die Farbe auf der Leinwand sah, der die Marmorgestalt in dem Gewirr von Felsbrocken erkannte?
    Wenn aber das in Frage kommende Muster kein definiertes, räumlich abgegrenztes Objekt war – sondern eine in sich abgeschlossene Welt, in der es mindestens einen Beobachter gab, der die Rasterpunkte des Musters von innen wahrnehmen konnte …
    Das war denkbar. Nicht nur das: Er hatte es getan. Im letzten Versuch des zweiten Experiments hatte er sich und

Weitere Kostenlose Bücher