Cyber City
gedacht hatte – er war überzeugt gewesen, seine virtuelle Auferstehung würde erst in einer fernen Zukunft stattfinden, wenn er entweder steinreich geworden oder die Kosten für Rechenzeit so weit gesunken waren, daß Geld nicht mehr zählte.
Er war erst sechsundvierzig und kerngesund, Manager bei der Incite PLC AG, einem der größten europäischen Marketingunternehmen – und stellvertretender Leiter der Abteilung Interaktive Werbung.
Mit etwas Vorsicht hätte er gut hundertfünfzig Jahre alt werden können – um sogleich nach seinem körperlichen Tod in den Kreis jener Elite aufgenommen zu werden, die – weil die Technik inzwischen weit genug fortgeschritten war – über einen kybernetischen Körper verfügten, der vom biologischen kaum zu unterscheiden war.
Er hatte für das Privileg gezahlt, den Tod nicht mehr fürchten zu müssen – und auf schwer nachvollziehbare Weise mußte er die Dinge durcheinandergebracht haben: jene abstrakte und literarische Unsterblichkeit, die mythische Helden und tugendhafte Gläubige sich verdient und erstritten hatten, mit dem einseitigen, wenn auch nicht billigen Angebot der freien Wirtschaft, das er erworben hatte.
Welche Erklärungen sich für seinen Tod auch finden würden, eines stand fest: Vom finanziellen Standpunkt aus betrachtet war er eindeutig zu früh gestorben.
In weniger als einer Woche – ein paar Stunden subjektiver Zeit – hatte er sich aus der lebensechten Simulation eines Menschen in einem großzügigen virtuellen Apartment (das er zur Zeit seines Scans mitgekauft hatte) in ein körperloses Bewußtsein vor den Bildschirmen eines Bunkers zurückgezogen. Nicht einmal diese Datenreduktion ermöglichte ihm, sein früheres Leben, seinen Beruf weiterzuleben.
Personen, die eine Scan-Datei besaßen, erhielten keine volle Lebensversicherung – erst recht nicht solche, die in ihrer Freizeit gefährlichen Hobbys nachgingen. Und weil der Gerichtsmediziner zu keinem Ergebnis gekommen war, hatte die überteuerte und windige Versicherung, die er als einzige hatte abschließen können, die Zahlung ganz verweigert. Bei einem Verlangsamungsfaktor von dreißig – der schnellstmögliche Zeitablauf im Verhältnis zur Echtzeit, den er sich von den Erträgen seines Vermögens leisten konnte – war die Kommunikation nach draußen schwierig. Zu arbeiten und Geld zu verdienen war völlig ausgeschlossen. Selbst wenn er sein Kapital ohne Rücksicht auf die Folgen aufbrauchte, um ein ganzes Prozessor-Cluster zu mieten, wäre er immer noch zu langsam, um Arbeit zu finden. Kopien, deren Treuhandvermögen in massiven Beteiligungen angelegt war, verblichene Firmendirektoren, die inoffiziellen Gremien angehörten und zweimal im Jahr zu einer Sitzung gingen, auf der in aller Ruhe drei, vier Entscheidungen getroffen wurden, hatten paradoxerweise von einer derartigen Verlangsamung keine Nachteile zu befürchten. Hawthorne war gestorben, bevor er die nötige kritische Vermögensmasse angehäuft hatte – ganz zu schweigen von einem Posten als emeritierter Direktor, der allein für seinen Namen auf dem Briefkopf der Firma bezahlt wurde.
Nach und nach begriff er seine Situation und versank immer tiefer in einem Meer von Depressionen. Jede beliebige Erkrankung, die ihn arbeitsunfähig machte, hätte früher ausgereicht, ihn aus seinem behaglichen Wohlstand der oberen Mittelklasse heraus in vergleichsweise Armut und Einsamkeit zu katapultieren … aber das war immer noch etwas anderes, als »arm« zu sterben.
Als er noch aus Fleisch und Blut gewesen war, hatte er die üblichen Ansichten widerspruchslos hingenommen: daß letztlich nur Geld zählte, daß Wahrheit nur das war, was man auf Besitzurkunden und Bankauszügen lesen konnte … während er an den Wochenenden in die kunstvollen Gärten des romantischen England flüchtete, unter freiem Himmel kampierte, aus seinen Gedanken den byzantinischen Wust der Stadt und ihrem Treiben zu verdrängen suchte, sich klarzumachen suchte, wie künstlich und willkürlich das alles war.
Er war kein Mensch, der sich einredete, von dem leben zu können, was die Natur, was Wald und Feld boten. Er würde nicht in einem Waldgebiet »verschwinden«, das zweimal am Tag von einem Beobachtungssatelliten zentimetergenau kartiert wurde, würde sich nicht vom Fleisch geschützter Tierarten ernähren, nicht mit bloßen Zähnen den Füchsen und Dachsen die Halsbänder mit den Suchsendern abreißen, nicht stoisch jene seltenen Krankheiten und Parasiten ertragen,
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