Cyber City
gegen die die Impfungen und polyklonalen T-Zellen-Aufrüstungen seiner Kindheit nicht vorgesorgt hatten. Er würde über kurz oder lang verhungern oder wahnsinnig werden – aber darum ging es nicht.
Was zählte war, daß seine Gene sich kaum von denen der Jäger und Sammler in grauer Vorzeit unterschieden, daß die Luft noch zu atmen war, daß noch immer die Sonne schien und die Nahrungskette in Gang hielt, daß ein zuträgliches Klima herrschte – und nicht, daß es physisch unmöglich, biologisch absurd war, sich ein Leben ohne Geld vorzustellen.
Vor den Bildschirmen des Bunkers hatte er immer und immer wieder über diese einfache und früher tröstliche Wahrheit nachgedacht, während das Gefühl eines unwiederbringlichen Verlusts ihn schwindeln machte. Jetzt gelang es ihm nicht mehr, die Macht des Geldes als Tanz um das goldene Kalb abzutun, als eine Massenpsychose – oder sich halb ironisch den Sinn eines Lebens als nackter Wilder – aber in Würde und Unabhängigkeit – draußen in den Wäldern vorzustellen. Geld war nun keine Idee mehr, mit der man liebäugeln konnte oder auch nicht – es waren Überweisungen von seinem Konto auf das der Hardwarebetreiber, es war Rechenzeit, die jedem Gedanken, jeder Wahrnehmung zugrunde lag. Es war alles, seine gesamte Existenz.
Ohne Freunde, ohne Körper, ohne die Welt, die er gekannt hatte – die heute schneller auf seinen Bildschirmen vorüberhuschte, als blickte man aus dem Fenster eines fahrenden Zuges –, hatte David Hawthorne sich überlegt, AUSZUSTEIGEN.
Kate hatte ihn daran gehindert. Ein Bürgerkomitee der Slumbewohner hatte sie beauftragt, den Neuankömmling willkommen zu heißen, also meldete sie sich bei ihm. Sie war dem Komitee beigetreten, weil sie sich Unterstützung für eines ihrer Projekte erhoffte. Das war, bevor sie sich entschlossen hatte, ihre Kunst nicht dem Publikum vorzustellen, weil die Rechenzeit dafür – verglichen mit wichtigeren Dingen – einfach zu schade war.
Es war das erste Mal nach Hawthornes Tod, daß sich jemand für ihn interessierte – abgesehen von kurzen, aufgezeichneten Botschaften seiner Ex-Freunde, Ex-Geliebten und Ex-Kollegen, die ihm Lebewohl sagten, als hätte er sich auf eine Reise ohne Wiederkehr gemacht, an einen Ort, der von keinem Kommunikationsmittel mehr erreichbar war. Und abgesehen von jenem Anruf des Expertensystems seiner Scan-Klinik, das ihn wegen eines möglichen Auferstehungstraumas beraten wollte – die ersten zehn (subjektiven) Minuten sogar gratis. Nun war plötzlich das Bild einer Frau auf seinem Monitor, perfekt mit seinem Zeitablauf synchronisiert und zu ihm sprechend. Kein Wunder, daß er sein Herz ausgeschüttet hatte.
Sie hatte ihn überredet, mit dem AUSSTEIGEN noch zu warten, bis er gründlich darüber nachgedacht hatte. Dazu brauchte es nicht viel, allein ihr Bild und ihre Stimme ließen ihm seine Aussichten unendlich attraktiver erscheinen. Tausende würden mit einem Verlangsamungsfaktor von dreißig oder sechzig oder noch schlimmer überleben, sagte sie – ohne eine Rolle in der menschlichen Gesellschaft zu spielen, ohne Beruf und Einkommen, finanziert allein aus dem Ertrag ihres Treuhandkapitals. Sie lebten in ihrer Zeit, in ihrem Tempo, nach ihren eigenen Maßstäben. Was konnte er schon verlieren, wenn er es ausprobierte?
Und wenn er dieses isolierte Leben jenseits der Menschenwelt nicht ertrug? Er konnte sich immer noch deaktivieren lassen und gespeichert darauf warten, daß sich der Zusammenhang zwischen Geld und menschlichem Dasein irgendwann zu seinen Gunsten verändern würde – was allerdings nicht ausschloß, daß er sich in einer Welt wiederfinden würde, die ihm zwar nichts an Tempo voraushatte, aber fremder und unverständlicher war als die jetzige in ihrer Zeitrafferperspektive.
Für jemanden, der allen Ernstes davon überzeugt gewesen war, in einem Roboterkörper wiederaufzuerstehen und weiterzuleben, als wäre nichts gewesen, waren die Slums ein Schock. Kate hatte ihn durch die Zeitlupenklubs geführt – Treffpunkte von Kopien, die bereit waren, ihren Zeitablauf mit dem des langsamsten Gastes zu synchronisieren. Milliardäre verkehrten hier nicht. Da gab es das Kabarett Andalou, wo Musiker die Gestalt von Saxophonen und Gitarren annahmen, wo der Gesang sichtbar und mit Händen greifbar dem Mund der Sänger entsprang und die Zuhörer wie eine Droge in ihren Bann schlug. Und es gab Nächte, besondere Nächte, in denen das Gefühl der Zusammengehörigkeit, der
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