Cyber City
Geschmack wie schon vor vier, acht oder wer-weiß-wie-vielen Jahren. Während seine Augen gebannt auf den Monitor starrten und die bekannten und dadurch seltsam beruhigend wirkenden Bilder auf ihn eindrangen, verblaßten die Erlebnisse der vergangenen drei Wochen zur Bedeutungslosigkeit: Tanzende Saxophone und begehbare Ölbilder entstammten einem – wenn auch lebhaften – Traum. Zumindest einem anderen Fernsehprogramm, so daß eine Verwechslung mit Nachrichten aus der Wirklichkeit unmöglich war.
Kate hatte gesagt: »Du kannst für immer hier sitzen bleiben – wenn du willst. Du kannst es dir ansehen, so lange du willst. Es gibt Kopien – wir nennen sie ›Chronisten‹ –, die sich in eine Art … System verwandelt haben, das zu nichts anderem fähig ist, als Nachrichten zu sehen und zu hören – sie sich so gründlich und umfassend einzuverleiben, wie es der Verlangsamungsfaktor erlaubt. Kein Körper, keine Müdigkeit, keine Ablenkung. Nur beobachten. Zusehen, wie Geschichte entsteht.«
»Das ist nicht das, was ich erhofft habe.«
Er hatte den Schirm keine Sekunde aus den Augen gelassen. Ohne Grund begann er zu weinen, leise, fast unmerklich. Er trauerte wegen etwas, das zu benennen er nicht in der Lage war. Sicher nicht um eine Welt, wie sie in den Nachrichten gezeigt wurde – es war nie die seine gewesen. Sicher auch nicht um jene Menschen, die ihm per Video »gute Reise!« gewünscht hatten – sie waren früher einmal in der einen oder anderen Weise wichtig gewesen, aber nun bedeuteten sie nichts mehr.
»Was sonst?«
»Das Draußen ist für mich immer noch die Wirklichkeit – auch wenn ich kein Teil mehr von ihr bin. Fleisch und Blut. Boden unter den Füßen. Wärmendes Sonnenlicht. Es ist die einzige Welt, die wirklich zählt. Ich kann nicht so tun, als wüßte ich das nicht. Alles hier drinnen ist Fiktion – schöner Schein, aber eben nur Schein.« Auch du bist nur Schein … und ich.
Kate sagte: »Das läßt sich ändern.«
»Ändern? Wie denn? Virtuell bleibt virtuell! Ich kann nicht einfach etwas anderes daraus machen.«
»Du kannst deine Einstellung und deinen Blickwinkel ändern. Hör endlich auf, deine Wahrnehmung als unwirklich oder zweitklassig zu empfinden.«
»Das sagt sich leicht!«
»Aber es läßt sich machen.«
Ein Schaltpult erschien, und sie zeigte ihm die zur Verfügung stehende Software: ein Programm, das sein Quasigehirn bis ins letzte Detail erfaßte und Hinweise auf Bedenken und Mißstimmungen wegen seiner Abwendung von der Welt identifizieren – und sie löschen konnte.
»Eine Do-it-yourself-Lobotomie.«
»Kaum. Es wird nicht einfach etwas ›weggeschnitten‹. Das Programm prüft Synapse für Synapse und ermittelt, wie sie neu gewichtet werden muß, um mit einer minimalen Änderung im Gesamtsystem die gewünschte Lösung zu erreichen. Ein paar Milliarden vereinfachter und kurzlebiger Versionen deines Gehirns werden getestet – und verworfen, was dich nicht stören muß.«
»Du hast das selbst ausprobiert?«
Sie lachte. »Ja … aus Neugier. Aber es gab nichts in mir, was ich verändern mußte. Ich wußte, was ich wollte. Sogar draußen wußte ich schon, was ich hier tun würde.«
»Das heißt … Ich brauche nur auf eine Taste zu drücken, und jemand anderes sitzt hier an meiner Stelle? Ein glücklicher Mensch voller Instant-Zufriedenheit? Und ich habe mich in Luft aufgelöst, bin ausgelöscht?«
»Hast du dich nicht bereits ausgelöscht, als du aus der Felswand abgestürzt bist?«
»Das war keine Absicht!«
»Du sollst dich auch nicht ›auslöschen‹. Du sollst dich ändern, soweit nötig. Du wirst noch immer David Hawthorne heißen. Was kannst du mehr verlangen? Hast du je etwas anderes getan?«
Stundenlang hatten sie diskutiert, jeden philosophischen und moralischen Aspekt erwogen. Gab es einen Unterschied zwischen einem sozusagen »natürlichen« Akzeptieren der Lage, wie sie nun einmal war, und jenem Eingriff, der das Akzeptieren als unumstößliche Tatsache im Quasigehirn verankerte? Am Ende, als seine Entscheidung fiel, erschien ihm auch das nur als Episode dieser Traumwelt, als bloßer Schein. So gesehen hatte der alte David Hawthorne nichts von seinen Überzeugungen aufgegeben – war ihnen noch in dem Augenblick treu, als er sie aus seinem Leben strich.
In einem Punkt hatte Kate sich geirrt: Obwohl er noch immer dieselbe Person war – wie es die Kontinuität seines Denkens und seiner Erinnerungen nahelegte –, hatte er das Bedürfnis, das
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