Cyber City
wollte. Ganz und gar bei ihr. Wenn er sie allein gehen ließe, wenn er die einzige Gelegenheit, sie in Gestalt einer Zweitversion zu begleiten, ungenutzt verstreichen ließ, würde er am Ende wahnsinnig werden. Er konnte nicht sagen, ob aus echtem Gefühl oder bloßer Besitzgier, aus Eifersucht oder Loyalität – er wußte nur, daß er an dem teilhaben wollte, was sie erlebte.
Die Erkenntnis war beunruhigend. Peer speicherte eine Momentaufnahme seines Zustands.
Kate wies auf die Tür, hinter der die im Bau befindliche Stadt wartete.
Peer sagte: »Warum sich die Mühe machen? Wir werden genug Zeit haben, uns das endgültige Produkt anzuschauen.«
Sie warf ihm einen erstaunten Blick zu. »Du willst keinen Blick riskieren, um deine Neugier zu befriedigen? Für einen Version von dir ist es die einzige und letzte Möglichkeit, sie kennenzulernen.«
Er überlegte, dann schüttelte er den Kopf. »Ein Klon wird die fertige Stadt sehen, der andere nicht. Beide werden eine gemeinsame Vergangenheit haben, in der sie nichts von ihr wissen. Der Klon draußen, der sie zu Gesicht bekommt, wird sich ausmalen, wie sie aussehen könnte. Der Klon drinnen wird andere Umgebungen modellieren und oft genug keinen Gedanken auf die Stadt verschwenden. Und wenn, dann ist es gut möglich, daß seine Erinnerung ihn täuscht. Gelegentlich werden ihm im Traum bizarre Varianten dessen erscheinen, was er gesehen hat. Alles zusammen ist ein Teil von mir – so werde ich es jedenfalls definieren –, warum sollte ich also neugierig sein?«
Kate sagte: »Am meisten mag ich, wenn du die Dinge locker und unkompliziert siehst!« Sie machte einen Schritt auf ihn zu und küßte ihn – doch als er sie halten wollte, floh sie erneut in einen anderen Körper, so daß er nichts als ihre leere Hülle umarmte, »jetzt halt endlich den Mund und laß uns die Stadt ansehen!«
Peer bezweifelte, daß er jemals herausfinden würde, wie er gestorben war. So quälend und ermüdend er sein Gedächtnis durchforschte, nicht weniger mühsame Videointerviews mit alten Freunden führte oder seinen letzten Scan von Expertensystemen auf medizinische Anhaltspunkte untersuchen ließ, er kam der Wahrheit keinen Schritt näher. Eine Lücke von vier Jahren, die er einfach nicht schließen konnte – vier Jahre seines Lebens, die verloren waren. Und die Ereignisse in dieser Zeit erschienen ihm eher wie eine mißlungene Expedition in eine Parallelwelt denn als bloßer Gedächtnisverlust.
Die Gerichtsmediziner hatten den Fall als ungeklärt zu den Akten gelegt. Unfälle beim Bergsteigen waren selten. Es gab nahezu perfekte technische Hilfsmittel – über die David Hawthorne hochmütig die Nase gerümpft hatte, denn sie machten die Berge zu Spielwiesen (das galt auch für Blackbox-Implantate, die die zu seinem Tod führenden Ereignisse aufgezeichnet hätten – vielleicht sogar die Motive dahinter). Keine Kletterhaken, die den Fels mit Ultraschall abtasteten und die eigene Tragkraft errechneten, kein Gurtsystem, das ihn nach allen Seiten mit aufblasbaren Luftsäcken absicherte (und selbst seinen Sechzig-Meter-Sturz auf scharfkantige Felszacken abgebremst hätte), und kein Begleitroboter, der ihn mit gebrochenem Rückgrat zwanzig Kilometer weit über zerklüftetes Gelände getragen und auf der Intensivstation abgeliefert hätte, als wäre er auf einer Morphiumwolke geschwebt.
Bis zu einem gewissen Grad konnte Peer es verstehen. Welchen Sinn machte es, sich scannen zu lassen, wenn man danach weiterhin durch ständige Rücksichtnahme auf die Verletzlichkeit des eigenen Körpers eingeengt und versklavt wurde? Wenn der Tod besiegt war, wie konnte er da weiterleben, als hätte sich nichts geändert? Biologische Instinkte, erlerntes oder anerzogenes Sicherheitsdenken – alles, was in den Begriff »Überleben« mündete, war absurd geworden. Und er hatte nicht dem Bedürfnis widerstehen können, es auf die Spitze zu treiben.
Was nicht hieß, daß er sterben wollte.
Ob sein Tod ein unglücklicher Zufall oder ein eindeutiger Selbstmord oder ob er das Ergebnis eines an Irrsinn grenzenden Spiels mit der Gefahr war (ohne ein Scheitern bewußt in Kauf zu nehmen): Dieser David Hawthorne, dem vier Jahre seines Lebens einfach fehlten, war in den virtuellen Slums erwacht und hatte festgestellt, daß dieser Ort ebensogut das Fegefeuer sein konnte. Was immer er in diesen fehlenden Jahren geglaubt hatte, was immer er während seiner letzten Sekunden in der überhängenden Kalksteinwand
Weitere Kostenlose Bücher