Cyberabad: Roman (German Edition)
war es eine leibhaftige Inkarnation, real, kein legendäres Untier. Auf jenem Harvard-Rasen hatte er sich verliebt. Er hatte sich nie wieder entliebt. Fünfundzwanzig Jahre lang hatte er diesen Dorn im Herzen mit sich herumgetragen.
Füße und Hände bewegen sich, Lippen formen das Mantra des Dhikr, alles dreht sich.
Die Verpackung war vollkommen, einfach, elegant. Papier mit rot-schwarz-weißem Koi-Muster, ein einziger Streifen aus Zellophanbast in Gold. Minimal. Inder hätten es aufgehübscht, bunt gemacht, mit Herzen und Schleifen und Ganeshas, es hätte Melodien gespielt und segnendes Konfetti versprüht, wenn man es öffnete. Als Shaheen Badoor Khan im Alter von dreizehn Jahren das Paket aus Japan sah, erkannte er, dass seine Wesensart niemals wirklich indisch sein würde. Sein Vater hatte auf seiner Geschäftsreise nach Tokyo Geschenke für die ganze Familie gekauft. Für seine jüngeren Brüder Karpfendrachen zum Boy’s Day, die von da an voller Stolz von den Balkonen des Haveli fliegen gelassen wurden. Für den ältesten Sohn Nihon in einer Box. Shaheen hatte auf die Quetschtuben mit Action Drink gestarrt, auf die Boat-in-the-Mist-Schokolade, die Sammelkarten und das Waving-Kitty-Robopet, die Tücher mit den Stimmungsfarben und die Disks mit Nippon-Pop. Was sein Leben grundlegend verändert hatte, wie ein Motorrad, das sich in einen rächenden Kampfroboter verwandelte, waren die Mangas. Anfangs hatte ihm die unbeschwerte Mischung aus Gewalt, Sex und schulkindlicher Verunsicherung gar nicht gefallen. Billig und fremdartig. Aber was ihn verführt hatte, waren die Figuren, die langgestreckten geschlechtslosen Teenager mit den Rehaugen und Stupsnasen und ihren stets offenen Mündern. Sie retteten die Welt, hatten Probleme mit ihren Eltern, trugen fabelhafte Kostüme, hatten phantastische Frisuren und Schuhe, machten sich Sorgen um ihre Boygirl-Freunde, während die vernichtenden Engelroboter über Tokyo herfielen, aber die meiste Zeit waren sie eigenständig, cool, großartig, langbeinig und androgyn. Er sehnte sich so sehr nach ihrem aufregenden, leidenschaftlichen Leben, dass er geweint hatte. Er beneidete sie um ihre Schönheit und ihre sexy Sexlosigkeit und dass jeder sie kannte und liebte und bewunderte. Er wollte wie sie sein, im Leben und im Tod. In seinem Bett in der lauten Dunkelheit Varanasis dachte sich Shaheen Badoor Khan Fortsetzungsgeschichten für sie aus, was geschah, nachdem sie die Engel besiegt hatten, die durch den Riss zwischen den Himmeln in die Welt eingedrungen waren, wie sie sich in ihrer mit Pelz ausgekleideten Kriegskuppel liebten und miteinander spielten. Dann zogen sie ihn hinunter in ihr mit rosafarbenem Pelz ausgekleidetes Kriegsnest, wo sie sich aneinanderrieben, unbestimmt, aber leidenschaftlich, für immer und ewig. In jenen Nächten, wenn er zum Mage-Rider eines Grassen Elementoi gemacht wurde, wachte Shaheen Badoor Khan am erstickenden Morgen mit verklebter Pyjamahose auf.
Noch Jahre später nahm er heimlich diese vergilbten, aufgeweichten und zerfransten Comics aus der Schuhschachtel. Ewig jung, ewig schlank, ewig schön und abenteuerlustig standen die Boygirl-Piloten des Grassen Elementoi mit verschränkten Armen da und forderten ihn mit ihren Wangenknochen und Tieraugen und zum Küssen einladenden Schmollmündern heraus.
Shaheen Badoor Khan wirbelt am Rand der Transzendenz im Kreis und spürt, wie ihm Tränen in den Augen brennen. Die Sema schleudert ihn zurück zum Strand.
Seine Mutter hatte sich über die Feuchtigkeit und den Sozialismus und die Fischer beklagt, die vor dem Bungalow auf den Sand schissen. Sein Vater war nervös und muffelig und hatte Heimweh nach dem trockenen Norden. Er nörgelte an allem herum, in zerknitterter Hose und kurzärmligem Popelinhemd und offenen Sandalen in der erdrückenden Hitze Keralas, und es war der schlimmste Urlaub gewesen, an den Shaheen Badoor Khan sich erinnern konnte, weil er sich so sehr darauf gefreut hatte. Der Süden der Süden der Süden!
Am Abend kamen die Fischerkinder vom Meer herein. Von der Sonne geschwärzt, nackt, lächelnd. Sie hatten gespielt und geschrien und herumgeplanscht, während Shaheen Badoor Khan und seine Brüder auf ihrer Veranda saßen und Limonade tranken und ihrer Mutter zuhörten, die erzählte, wie schrecklich diese furchtbaren Kinder waren. Shaheen Badoor Khan fand sie gar nicht furchtbar. Sie hatten ein kleines Auslegerboot. Sie spielten den ganzen Tag lang mit diesem Boot, darin und drum
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