Cyberabad: Roman (German Edition)
zahllosen anderen in der gewaltigen Dunkelheit widerhallt. Die Zeit wird die Wogen seiner Taten und Untaten glätten, die Geschichte wird seinen Namen im Staub der Allgemeinheit einebnen. Es hat nichts zu bedeuten. Zum ersten Mal, seit die Fischerkinder im Sonnenuntergang von Kerala planschten und spielten, versteht er, was Freiheit ist. Freude flammt in der Mulde seines Manipura-Chakras auf. Der sufistische Moment der Selbstlosigkeit, der Zeitlosigkeit. Gott im Unerwarteten. Er hat es nicht verdient. Das Geheimnis dabei ist, dass es niemals zu denen kommt, die glauben, es verdient zu haben.
»Wohin, Sahb?«
Verantwortungen. Nach der Erleuchtung die Pflicht.
»Zum Haveli.« Von nun an geht es nur noch bergab. Die Worte, die einmal ausgesprochen wurden, lassen sich so leicht wiederholen. Sajida Rana hatte recht. Er hätte es ihr sofort sagen müssen. Die Anschuldigung hat ihn überrascht: Shaheen Badoor Khan ist nachhaltig daran erinnert worden, dass seine Premierministerin eine Frau ist, eine verheiratete Frau, die nicht bereit war, den Namen ihres Ehemannes anzunehmen. Er polarisiert die Autofenster dunkel gegen neugierige Augen.
Bilquis hat es nicht verdient. Sie hat einen guten Ehemann verdient, einen wahren Mann, der sie niemals in der Öffentlichkeit bloßstellen würde, selbst wenn sie ihn nicht mehr liebt oder das Bett mit ihm teilt, selbst wenn sie kein gemeinsames Leben mehr führen. Einen Mann, der lächelt und die richtigen Worte sagt, der nie zulässt, dass sie vor den Damen ihres Juristinnenzirkels vor Scham das Gesicht bedecken muss. Er hat alles gehabt – das hat auch Sajida Rana gesagt –, aber er konnte trotzdem nicht verhindern, dass er selbst alles zerstört. Er hat wahrhaftig verdient, was mit ihm geschehen ist. Dann schlägt auf dem sonnenrissigen Ledersitz des Regierungsfahrzeugs plötzlich Shaheen Badoor Khans Wahrnehmung um. Er hat es nicht verdient. Niemand hat es verdient, und alle haben es verdient. Wer kann sich mit erhobenem Haupt anmaßen, über ihn zu urteilen? Er ist ein guter Berater, der beste Berater, den es gibt. Er hat seinem Land gute und weise Dienste geleistet. Es braucht ihn immer noch. Vielleicht kann er untertauchen, sich wie eine Kröte während der Trockenzeit tief in den Schlamm eingraben und darauf warten, dass sich das Klima ändert.
Das erste Licht des Morgens fällt auf die Straßen, während der Dienstwagen weitersurrt, sanft wie ein Nachtfalter. Shaheen Badoor Khan erlaubt sich in seinem verdunkelten Glaskasten ein Lächeln. Der Wagen biegt um die Ecke, wo der Sadhu auf einem Betonblock sitzt, den einen Arm in einer Schlinge erhoben, die an einem Laternenpfahl befestigt ist. Shaheen Badoor Khan kennt diesen Trick. Nach einiger Zeit verliert man jedes Gefühl. Der Wagen hält unvermittelt an. Shaheen Badoor Khan muss die Arme ausstrecken, um nicht zu fallen.
»Was gibt es?«
»Schwierigkeiten, Sahb.«
Shaheen Badoor Khan entpolarisiert das Fenster. Die Straße vor ihnen wird von frühem Verkehr blockiert. Die Leute haben die Taxis verlassen und lehnen sich gegen die offenen Türen, um das Spektakel zu beobachten, das sie an der Weiterfahrt hindert. Körper fließen über die Kreuzung, schemenhafte Männer in weißen Hemden und dunklen Hosen und junge Männer mit Schnurrbartansatz bewegen sich im stetigen, wütenden Trab, und die Lathis in ihren Händen wippen auf und ab. Eine Batterie Trommler kommt vorbei, gefolgt von einer Grupper wilder Frauen in Kali-Rot, mit weißer Asche eingeriebene Naga Sadhus, die simple Shiva-Trishuls schwenken. Shaheen Badoor Khan beobachtet, wie eine große Ganesha-Figur aus rosafarbenem Pappmaché in sein Blickfeld rumpelt, knallbunt, im zunehmenden Licht fast fluoreszierend. Sie schwankt hin und her, unbeholfen gelenkt von barbeinigen Puppenspielern. Hinter Ganesha ein noch erstaunlicherer Anblick: der wogende orange-rote Turm einer Rahta Yatra. Und Fackeln. Jeder Teilnehmer und jeder Läufer hält Feuer in der Hand. Shaheen Badoor Khan wagt es, das Fenster einen Spaltweit zu öffnen. Eine Lawine aus Lärm stürzt auf ihn ein, ein gewaltiges, unausgeformtes Grölen. Individuelle Stimmen schälen sich heraus, nehmen ein Thema auf, tauchen wieder unter. Sprechgesänge, Gebete, Parolen, Nationalhymnen, Choräle der Karsevaks. Er muss gar nicht die Worte verstehen, um zu wissen, wer sie sind. Der riesige Mahlstrom aus Demonstranten um den Sarkhand Roundabout ist ausgebrochen und strömt nun durch Varanasi. Das würden diese
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