Cyberabad: Roman (German Edition)
einflussreich sind. Ich folge lediglich meinen Anweisungen und stelle meine Gebühren in Rechnung. Bitte verstehen Sie, dass ich Ihnen bei der Beantwortung Ihrer Fragen nicht weiterhelfen kann. Aber ich kann nun der letzten Verfügung meiner Klienten nachkommen.«
Mr. Nagpal lässt seine Glocke klingeln und gibt seinem Babu auf Hindi eine Anweisung, worauf dieser kurze Zeit später mit einer buchgroßen Kiste zurückkehrt, die in Varanasi-Seide eingeschlagen ist. Mr. Nagpal entfernt das handgewebte quadratische Stück Seide. In der Kiste befinden sich zwei Gegenstände: ein Foto und ein Schmuckkästchen aus geschnitztem Holz. Er überreicht Kij das Foto. Es ist ein typisches Familienfoto, Mutter, Vater, Tochter. Sie stehen lächelnd an einem Strand, und hinter ihnen erheben sich die Türme einer hell erleuchteten Stadt. Aber nun sind der Mann und die Frau tot, und das Mädchen, das im Morgenlicht blinzelt, hat einen glattrasierten Schädel, der die Narben einer kürzlich erfolgten Operation aufweist.
Kij streicht sich mit der Hand über den Kopf.
»Es tut mir leid, dass ich Ihre Hoffnungen nicht erfüllen konnte«, sagt Mr. Nagpal. »Dies ist der zweite Teil dessen, was man Ihnen zukommen lassen wollte.« Er hält Kij das Schmuckkästchen hin, damit sie es öffnen kann. Thomas Lull riecht Sandelholz, als sie den kleinen Messingverschluss aufklappt.
»Mein Pferd!«
Zwischen Daumen und Zeigefinger hält sie den universellen Kreis des Feuerchakras. In der Mitte tanzt ein sich aufbäumendes weißes Pferd.
Hinter den Raffinerietürmen und Tankfarmen am Ostufer hat der Himmel die Farbe von Obsidian angenommen, wie die Mauer einer zehn Kilometer hohen Festung. Von seinem Sitzplatz auf den höchsten Stufen des Dasashvamedha Ghat kann Thomas Lull den Luftdruck in seinen Nebenhöhlen spüren. Die dunstige gelbe Sonne bedeckt Stadt und Fluss. Die breiten Sandbänke des Ostufers, wo die Nagas ihren Asketizismus zur Schau stellen, zeichnen sich weiß vor dem schwarzen Himmel ab. Eine Windböe jagt Tagetesblätter über das Dasashvamedha Ghat und lässt die Boote auf dem Strom schaukeln. Selbst in Kerala hat Thomas Lull nie eine solche Luftfeuchtigkeit erlebt. Er stellt sich vor, wie die Hitze, der Wasserdampf und die Chemikalien in seinen Atemwegen verwirbelt werden und sie verstopfen.
Die Nase zum Atmen, den Mund zum Sprechen.
Die ganze Stadt scheint die Luft anzuhalten, unter Atemnot zu leiden. Hitze und Krieg. Der Zorn von Sarkhand ist auf die Straßen übergekocht. Brände. Tote. Zuerst die Neuts, dann die Muslime, wie immer. Jetzt werden amerikanische Fastfood-Restaurants in der Neustadt von Mahindra-Pick-ups gerammt, und Karsevaks schütten Alkosprit über blasphemische Rinderburger. Zum ersten Mal verspürt Thomas Lull Befangenheit wegen seines Akzents und seiner Hautfarbe.
Der Armee-Offizier hatte seinen Reisepass mitgenommen und ihn allein im fensterlosen Lagerraum der Klinik des kleinen Dorfs zurückgelassen, wo die Bharati-Streitkräfte sich um die Flüchtlinge des Zugunglücks kümmerten. Thomas Lull saß auf dem Metallstuhl unter der einzelnen lampenlosen Glühbirne und hatte plötzlich Angst, fühlte sich plötzlich nackt, während im Nachbarraum Männer laut auf Hindi telefonierten und sich über seinen Pass unterhielten. Er hatte nie bewusst an die amerikanische Gnade geglaubt, dass dieses Büchlein ihn zu einem globalen Aristokraten machte, ihm einen Mantel der Unverletzbarkeit verlieh, aber er hatte es wie ein Kruzifix hochgehalten, als er zwischen unbegreifliche verfeindete Fronten geraten war. Er hatte nicht gedacht, dass der Pass ihn zu einem Mitspieler machen könnte, bestenfalls zum Laufburschen eines Feindes, schlimmstenfalls zu einem Spion. Thomas Lull wartete drei Stunden lang in diesem Zimmer, während Tastaturen klapperten und Babus der Armee Zeugenaussagen aufnahmen und draußen auf der Straße Frauen klagten. Dann kam ein pummeliger Subalterner mit blauer Tilaka auf der Zunge vom Anlecken seines Kugelschreibers und riss Blätter heraus, stempelte Zettel und reichte Thomas Lull ein Büschel aus Papieren in Pink, Blau und Gelb sowie seinen soliden schwarzen Reisepass.
»Das ist eine Reisegenehmigung, das ist Ihr vorläufiger Ausweis, das ist Ihr Ticket«, erklärte er, während er mit dem Kugelschreiber darauf zeigte. »Die Busse fahren vor dem Durga-Tempel ab, Ihr Bus hat die Nummer 19. Ich möchte Ihnen das Bedauern der Regierung von Bharat wegen Ihrer Unannehmlichkeiten aussprechen und
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