Cyberabad: Roman (German Edition)
der irgendwas mit Kaihs macht, hat eine gute Vorstellung davon, was sie in ihren Cyberabads verstecken. Während des Monats vor Inkrafttreten des Hamilton-Gesetzes wurden Bevabytes an Informationen aus den USA verschoben. Washington hatte alle indischen Staaten unter großen Druck gesetzt, die Internationalen Vereinbarungen zur Registrierung und Lizensierung Künstlicher Intelligenzen zu ratifizieren. Und ich dachte, dann hätten sie wenigstens irgendjemanden, der für sie spricht, eine amerikanische Stimme, die den Standpunkt der Gegenseite vertritt.
Jean-Yves und Anjali wollten, dass ich rüberkomme – ihnen war klar, wie die Sache laufen würde. Selbst wenn Awadh sich den Wünschen Washingtons fügt, konnten sie sich von den Ranas in Sachen Lizensierung nicht mehr erhoffen als eine Kompromissvereinbarung, um die Soapis bei Laune zu halten. Dann verließ mich meine Frau und nahm die Hälfte meines weltlichen Besitzes mit, und ich dachte, ich wäre bei mir und intellektuell und cool, aber ich war nichts von alledem. Ich war das Gegenteil von dem, was ich von mir selber dachte. Ich glaube, eine Zeitlang war ich verrückt, und ich glaube, dass ich immer noch nicht ganz klar bin. Mann, ich kann es einfach nicht fassen, dass sie tot sind.«
»Was glaubst du, woran sie in den Sundarbans gearbeitet haben?«
Kij hockt im Schneidersitz auf einem Holzpodest, wo die Priester die abendliche Puja für Ganga Devi zelebrieren. Immer wieder blicken die Gläubigen lange auf ihre Tilaka, eine Vishnuitin im Herzen der Verehrung Shivas.
»Ich glaube, sie hatten dort eine Generation Drei.«
Kij spielt mit einer Kette aus Tagetesblütenblättern. »Haben wir die Singularität erreicht?«
Thomas Lull zuckt zusammen, als das abstruse Wort wie eine Perle von Kijs Lippen fällt.
»Okay, Mystery-Girl, was verstehst du unter Singularität?«
»Ist damit nicht der theoretische Punkt gemeint, wenn die Kaihs erstmals so intelligent wie Menschen werden, um sie dann sehr schnell hinter sich zu lassen?«
»Meine Antwort darauf ist ja und nein. Ja, es gibt da draußen zweifellos Kaihs der Generation Drei, die genauso lebendig und bewusst und empfindsam sind wie ich. Aber sie werden uns Menschen nicht allesamt zu Sklaven oder zu Haustieren machen oder uns mit Atombomben auslöschen, weil sie glauben, dass wir mit ihnen um dieselbe ökologische Nische konkurrieren. Das ist der Gedanke von Hamilton, aber mit Denken hat das nichts zu tun. Damit kommen wir zum ›Nein‹-Teil der Antwort: Sie sind intelligent, aber auf andere Weise als Menschen. Künstliche Intelligenz ist eine fremde Intelligenz. Sie ist eine Reaktion auf bestimmte Umwelteinflüsse und Reize, und bei dieser Umwelt handelt sich um die Cybererde, wo ganz andere Regeln herrschen als auf der Realerde. Die erste Regel der Cybererde lautet: Informationen lassen sich nicht bewegen, sie müssen kopiert werden. Auf der Realerde ist die physische Bewegung von Informationen ein Kinderspiel, wir tun es jedes Mal, wenn wir aufstehen und die Bewusstseinsware in unseren Köpfen herumtragen. Kaihs können das nicht, aber sie können etwas, das wir nicht können. Sie können sich selbst kopieren. Ich habe keine Ahnung, wie sich das auf das Ich-Bewusstsein auswirkt, und streng genommen kann ich es auch gar nicht wissen. Für uns ist es eine philosophische Unmöglichkeit, gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten zu sein, aber für Kaihs gilt das nicht. Für sie ist die philosophische Tragweite der Frage, was man mit seiner zusätzlichen Kopie macht, wenn man sich in eine neue Matrix begibt, von fundamentaler Bedeutung. Stirbt ein vollständiges Ich, oder ist es nur Teil einer größeren Gestalt? Und schon haben wir es mit einer völlig fremdartigen Denkweise zu tun. Wenn die Kaihs also wirklich die Singularität erreicht haben und ihr IQ in die Millionen hochschießt, was bedeutet das eigentlich in menschlichen Begriffen? Wie wollen wir so etwas messen? Womit wollen wir es vergleichen? Intelligenz ist keine absolute Eigenschaft, sie ist immer umweltspezifisch. Kaihs müssen keine Börsenkrisen auslösen oder Atomraketen starten oder unser planetares Netz zerschlagen, um die Menschen in die Schranken zu weisen. Es gibt keine Konkurrenz, weil diese Dinge in ihrem Universum keinerlei Bedeutung oder Relevanz haben. Wir sind Nachbarn in Paralleluniversen, und solange wir als Nachbarn leben, werden wir friedlich und zu gegenseitigem Nutzen koexistieren. Aber die Hamilton-Gesetze bedeuten, dass wir den
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