Cyberabad: Roman (German Edition)
Erschöpfung und Schock. Najia kriecht davon und macht frischen Chai, bis sie hört, dass das Klagen und Wimmern nachlässt. Für eine Afghanin hat sie eine typisch nordeuropäische Furcht vor großen Gefühlen.
»Noch Chai?«
Thal hat sich in das Bettlaken gehüllt. Ys nickt. Das Glas zittert in sys Hand.
»Woher wussten Sie, dass ich am Bahnhof sein würde?«
»Journalistengespür«, sagt Najia Askarzadah. Sie möchte sys Gesicht berühren, sys so glatte, zarte Kopfhaut. »Ich hätte dasselbe getan.«
»Ihr Journalistengespür ist etwas sehr Mächtiges. Ich bin ein Idiot gewesen! Lächelnd und tanzend und lachend und fest davon überzeugt, dass alle mich lieben! Das neue Neut in der Stadt, das jeder unbedingt kennenlernen will, kommt zu unserer großen Party, kommt in unseren Club ...«
Najia streckt die Hand aus, um ys zu berühren, zu beruhigen und zu wärmen. Dann liegt Thal plötzlich an ihrer Brust, und ihr Kinn streift sys glatten Kopf. Es ist, als würde sie eine Katze in den Armen halten, die nur aus Knochen und Anspannung besteht. Ihre Finger gleiten über die Pusteln auf sys Arm. Sie sehen wie Reihen symmetrischer Insektenstiche aus. Najia zuckt zurück.
»Nein, bitte da«, sagt Thal. Vorsichtig drückt sie auf die Stelle, spürt, wie es unter der Haut fließt. »Und hier, bitte?« Sys Finger führen sie zu einer Stelle knapp unter sys Handgelenk. »Und hier.« Eine Handbreit unter dem Ellbogen. Das Neut erzittert in ihren Armen. Sys Atmung beruhigt sich. Sys Muskeln straffen sich. Ys erhebt sich zittrig auf die Beine, läuft nervös im Zimmer umher. Najia kann die nervöse Spannung riechen.
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie leben«, sagt Najia, »wenn Sie sich Ihre Emotionen aussuchen können.«
»Wir suchen uns die Emotionen nicht aus, nur die Reaktionen. Es ist ... sehr intensiv. Wir werden kaum älter als sechzig.« Jetzt geht Thal beunruhigt auf und ab, wie ein Mungo im Käfig, lugt durch die Lüftungslamellen, lässt sie wieder zuklappen.
»Wie konnten Sie ...?«
»Eine solche Wahl treffen? Es ist lange genug, um die Schönheit auszukosten.«
Najia schüttelt den Kopf. Eine Unglaublichkeit nach der anderen.
Thal schlägt die Fäuste gegen die Wand. »Idiot! Ich sollte sterben ich sollte sterben ich bin zu dumm zum Leben.«
»Damit stehen Sie nicht allein da. Auch ich war dumm, als ich dachte, ich hätte einen guten Draht zu N. K. Jivanjee.«
»Sie sind Jivanjee begegnet?«
»Ich habe mit ihm gesprochen, über Video, als er das Treffen arrangierte, bei dem Satnam mir die Fotos gab.«
Ein Schatten fällt auf die Jalousie vor dem Fenster. Neut und Frau erstarren. Thal lässt sich langsam sinken, bis ys unter der Höhe des Fenstersimses ist. Ys winkt Najia, sich genauso an die Wand zu drücken. Najia horcht mit dem gesamten Körper und kriecht über die Matten und durch die Gazeflächen. Dann eine Frauenstimme, die deutsch spricht. Najias Bauch entspannt sich. Einen Moment lang glaubte sie, sich vor Angst erbrechen zu müssen.
»Wir müssen aus Bharat verschwinden. Man hat Sie mit mir gesehen«, flüstert Thal. »Damit stecken wir in denselben Schwierigkeiten. Wir müssen uns ein sicheres Transportmittel besorgen.«
»Sollten wir nicht lieber zur Polizei gehen?«
»Haben Sie denn gar keine Ahnung, wie dieses Land funktioniert? Die Polizei gehört Sajida Rana, und sie will mich als Verräter schnappen, und der Teil der Polizei, der ihr nicht gehört, hält zu Jivanjee. Wir brauchen etwas, das uns wertvoll genug macht, um uns Schutz zu bieten. Sie sagten, sie hätten über Video mit Jivanjee gesprochen. Ich vermute, Sie waren intelligent genug, das zu speichern. Zeigen Sie es mir. Vielleicht finden wir etwas.«
Sie setzen sich nebeneinander an die Wand. Najia hebt ihren Palmer. Ihre Hand zittert. Thal ergreift ihr Handgelenk und beruhigt sie.
»Das ist kein sehr gutes Modell«, sagt ys.
Der Ton ist schmerzhaft laut, als Najia das Video abspielt. Draußen im Club klackern Tennisbälle. Auf dem Bildschirm wirken die wogenden Kalamkari-Tücher an N. K. Jivanjees Pavillon wie eine göttliche Umkehrung dieses düsteren, heißen Schlafzimmers voll erstickender Furcht.
»Halt! Stop! Pause!«
Najias Daumen tastet auf den Kontrollen herum.
»Was ist das?«
»Das ist N. K. Jivanjee.«
»Ich weiß, Dummerchen. Wo ist das?«
»In seinem Büro, vielleicht in seiner Privatwohnung, vielleicht sogar in seiner Rath Yatra. Ich weiß es nicht.«
»Lügen Lügen Lügen«, zischt Thal.
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