Cyberabad: Roman (German Edition)
nächste Informationsfenster zeigt Aufnahmen der Tatortsicherung von der ausgebrannten Hülle des Badrinath-Sundarban. Die Hovercam schwebt durch schwarz verkohlte Zimmer, hängt einen Moment lang über den halb entfleischten Toten, den wie Kerzen geschmolzenen Prozessorgehäusen und Mr. Nandha, der mit seiner Stifttaschenlampe in den Waschbeckenunterschrank blickt. Zwei zusammengekauerte Kohleklumpen entfalten sich zu lebenden, lächelnden Passbildfotos von Westlern: Jean-Yves Trudeau, Annency, Frankreich, Europäische Union, * 15.04.2022, und Anjali Trudeau, geb. Patil, Bangalore, Karnataka, * 25.11.2026.
»Jean-Yves und Anjali Trudeau waren ehemalige Forscher an der Universität von Strasbourg in der Abteilung Künstliches Leben des Instituts für Computerwissenschaft. In den vergangenen vier Jahren waren sie wissenschaftliche Mitarbeiter auf dem Campus der University of Bharat in Varanasi in der Fakultät für Computerwissenschaft unter Professor Chandra, der auf die Anwendung von darwinistischen Paradigmen auf Proteinmatrix-Schaltungen spezialisiert ist«, erklärt Saraswati. Ihre Stimme ist Kalpana Dhupia aus Stadt und Land entlehnt.
Die Trudeaus reißen sich von ihrem Quadranten der Sphäre los und schweben im stationären Orbit. In einem Videofenster erscheinen die schlecht aufgelösten, körnigen Bilder vom Innern eines Apartments. Im Vordergrund ein nackter achtzehnjähriger Mann mit einer halben Erektion in der rechten Hand. Er lehnt sich zurück und zielt auf die Mitte des Bildes. Idiotisches Grinsen im Gesicht. In mittlerer Entfernung die Shanti Rana Apartments, mittlere Höhe, mit offenem Fenster. Balkon, etwas Wäsche. Auf der anderen Seite der Straßenschlucht Apartmentfenster und die rostigen Kästen der Klimaanlagen. Ein weißer Pfeil schießt durch die Außenszene. Dann füllt sich der Fensterrahmen mit einem donnernden Feuerball. Mr. Masturbator wirbelt herum, kreischt etwas, das die digitale Kompression des Kameramikros überfordert. Standbild eines mageren Hinterns vor explodierendem Gas und Flammen, die linke Hand greift nach einem Seidentuch.
»Das Krishna-System hat sämtlichen Netzverkehr in der Umgebung eine Stunde vor und nach dem Anschlag zurückverfolgt«, erklärt Saraswati in freundlichem Tonfall. »Diese Webcam-Aufnahmen, die wir einer glücklichen Fügung verdanken, stammen aus einer Wohnung, die dem Tatort genau gegenüberliegt.« Der Film wird zum weißen Blitz zurückgespult, dann wird ein Ausschnitt des Standbilds vergrößert, bis nur noch eine Ansammlung von Pixeln zu sehen ist. Doch die Bildbearbeitung verschärft und verwischt die Graustufenquadrate zu einer Flugmaschine, einem weißen Vogel mit nach oben gerichteten Flügeln, Stabilisierungsflosse und knollenartigem Mantelpropeller im Bauch. Eine Grafikroutine zeichnet einen Umriss, stellt das Bildelement frei, rendert es und morpht es zum idealisierten Kriegsporno-Pin-up einer Ayappa-Luftabwehrdrohne, Bharati-Lizenzversion, mit Infra rotlaser bewaffnet.
Datenblätter mit wallenden Manifesten werden eingeblendet, die die unerklärliche Lücke in den militärischen Aufzeichnungen demonstrieren, während die Luftabwehrdrohne 7132 den Badrinath-Sundarban angegriffen hat. Mr. Nandha beobachtet die beeindruckenden Darstellungen, aber in Gedanken ist er bei Professor Naresh Chandra, der aufrichtig bestürzt reagierte, als er erfuhr, dass seine Forschungskollegen gestorben waren. Die meisten seiner Mitarbeiter waren als externe Berater tätig, weil die Forschung nur so finanziert werden konnte – aber für ein Sundarban? Widerstandslos hatte er ihr Büro geöffnet. Mr. Nandha hatte bereits die Spurensicherung angefordert. Er hatte an den vielen Kaffeedosen geschnuppert – eine andere Mischung für jede Gelegenheit, wie es schien –, während die Krishna Cops sich die Unterlagen ansahen. Mr. Nandha wünschte sich sehr, er könnte Kaffee trinken, ohne dabei das Gefühl zu haben, dass sich sein Magen auflöst. Nach zehn Minuten hatten sie die Verbindung gefunden.
Graphiken können überwältigend und verführerisch sein, aber jedes gute Plädoyer erreicht einen Punkt, an dem Maschinen versagen und die Anklage auf menschliche Dramatik zurückgreifen muss. Mr. Nandha zieht ein seidenes Taschentuch aus seiner Nehru-Jacke und entfaltet es. Er hält das verkohlte Bildnis eines sich aufbäumenden weißen Pferdes hoch.
»Kalki«, sagt er. »Der zehnte Avatar Vishnus, mit dem das Zeitalter Kalis endet. Ein angemessener Name, wie wir
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