Cyberabad: Roman (German Edition)
einem sagen. Es gibt einen Komplizen in einem identischen Zimmer. Denn man ist eines Verbrechens angeklagt.
Also schleppt man einen in dieses grüne Verhörzimmer, in dem es nach Farbe und Desinfektionsmittel riecht. Sehen Sie Ihren Kumpel/Spießgesellen/Lebenspartner da drüben? Sobald das Band lief, hat er/sie alles ausgeplaudert und Sie verraten. Diese Entscheidung muss man treffen. Sie könnten die Wahrheit sagen. Es könnte aber auch ein Trick sein, damit man seinen Partner verpfeift. Man weiß es nicht, und die Polizisten werden es einem nicht sagen. Sie sind böse . Dann lassen sie einen schmoren und gönnen einem nicht einmal eine Tasse Kaffee.
Man muss die Sache folgendermaßen sehen. Man streitet alles ab, und auch der Kumpel/Spießgeselle/Lebenspartner streitet alles ab, und dann lässt man vielleicht beide laufen. Wegen unzureichender Beweise. Wenn beide gestehen, sind die Polizisten vielleicht gar nicht so böse, weil Polizisten nichts mehr hassen als Papierkram und man ihnen soeben eine Menge davon erspart hat, so dass sie auf Haftverschonung drängen. Oder man streitet alles ab, und der/die in der anderen Zelle verrät einen. Kumpel kommt frei, und alles bleibt an einem selber hängen. Wie soll man sich entscheiden? Man ist auf die Antwort gekommen, bevor ihre Schritte das andere Ende des Korridors erreicht haben. Man hämmert gegen die Tür. He, he, kommen Sie zurück! Ich will Ihnen alles sagen!
Das Spiel heißt Gefangenendilemma. Es macht nicht so viel Spaß wie Blackjack oder Dungeons and Dragons, aber es ist ein Werkzeug, das KL-Forscher benutzen, um komplexe Systeme zu untersuchen. Wenn man es lange genug spielt, kommen alle möglichen menschlichen Wahrheiten ans Licht. Langfristig gut, kurzfristig böse. Behandle sie, wie du behandelt werden möchtest, und wenn nicht, behandle sie so, wie sie dich behandeln. Thomas Lull hat vielleicht eine Million Mal Gefangenendilemma und jede Menge ähnlicher Spiele angewendet, die auf begrenzten Informationen basieren. Doch es ist ziemlich schwierig, sie in einer realen Situation umzusetzen.
Das Zimmer ist grün und riecht nach Desinfektionsmittel. Außerdem müffelt es nach Schimmel, altem Urin, heißem Ghee und Feuchtigkeit von den Hemden der nassgeregneten Polizisten. Es sind keine guten Bullen, es sind auch keine bösen Bullen, es sind einfach nur Polizisten, die lieber Feierabend machen und nach Hause zu ihren Frauen und Kindern gehen würden. Einer schaukelt ständig auf seinem Stuhl vor und zurück und sieht Thomas Lull mit hochgezogenen Augenbrauen an, als würde er auf eine Epiphanie warten. Der andere überprüft immer wieder seine Fingernägel und macht irgendetwas Unangenehmes mit dem Mund, das Thomas Lull an alte Filme mit Tom Hanks erinnert.
Tu, was du tun musst, Lull. Sei nicht gerissen, sei nicht cool. Sieh zu, dass du hier wieder rauskommst. Er spürt eine zunehmende Enge im Brustkorb.
»Hören Sie, ich habe es schon den Soldaten gesagt. Ich bin mit ihr auf Reisen, sie hat Verwandte in Varanasi.«
Stuhlschaukler beugt sich vor und kritzelt etwas auf Hindi auf einen Notizblock. Der Stimmrecorder funktioniert nicht. Sagen sie. Tom Hanks macht wieder das mit dem Mund. Langsam geht es Thomas Lull richtig auf die Nerven. Auch das könnte ein Teil des Spiels sein.
»Damit mögen sich Jawans aus der Provinz zufriedengeben, aber wir sind hier in Varanasi, Sir.«
»Ich verstehe nicht, was zum Teufel hier los ist.«
»Es ist recht einfach, Sir. Ihre Kollegin hat eine Anfrage an die Nationale DNS -Datenbank gestellt. Ein routinemäßiger Sicherheitsscan offenbarte gewisse ... anomale Strukturen in ihrem Schädel. Sie wurde von der Sicherheit festgenommen und in unsere Obhut überstellt.«
»Sie reden ständig von diesen anomalen Strukturen. Was heißt das? Was sind das für anomale Strukturen?«
Tom Hanks betrachtet wieder seine Nägel. Sein Mund verzieht sich zu einem unglücklichen Ausdruck. »Das ist inzwischen eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit, Sir.«
»Das hier ist verdammt Franz Kafka. Das ist es!«
Tom Hanks blickt sich zu Stuhlschaukler um, der den Namen notiert.
»Das ist ein tschechischer Schriftsteller«, sagt Thomas Lull. »Er ist schon seit hundert Jahren tot. Ich habe nur versucht, ironisch zu sein.«
»Sir, bitte verzichten Sie auf Ironie. Wir haben es mit einem sehr ernsten Problem zu tun.«
Stuhlschaukler streicht bedächtig den Namen durch und schaukelt zurück, um Thomas Lull aus einer weiteren Perspektive
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