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Cyberabad: Roman (German Edition)

Cyberabad: Roman (German Edition)

Titel: Cyberabad: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McDonald
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Finger des schlechten Gewissens aus ihrer kirchlichen Kindheit zeigt anklagend auf sie, als sie hoch über dem Australo-Indischen Ozean kreist. So gut war der Blick aus dem realen Weltraum nie. Europa ist ein Bogen aus Inseln und Halbinseln an der westlichen Krümmung des Planeten, Asien eine nordwärts treibende Landmasse. Nordasien brennt. Aschewolken verdecken den halben Kontinent. Die Feuer erhellen die Nachtseite von Alterre. Lisa Durnau ruft ein Datenfenster auf. Sie stößt einen leisen, wortlosen Schrei aus. Auch der Sibirische Trapp bricht aus.
    Alterre liegt im Sterben, gefangen zwischen den Bränden in der Kopf- und Hüftregion. Das in der Kruste gebundene Kohlendioxid, das durch den gashaltigen Basalt freigesetzt wird, verbindet sich mit dem Kohlenstoff der brennenden Wälder und führt zu einem dramatischen Treibhauseffekt, der die Temperatur der Atmosphäre und der Ozeane weit genug ansteigen lässt, um die Clathrate platzen zu lassen. Methan, das in Eiskammern tief unter dem Meer eingeschlossen ist, gelangt in einem gigantischen Gasausbruch ins Freie. Die Ozeane werden wie eine fallen gelassene Dose mit Sodawasser kochen. Der Sauerstoffanteil sinkt, während die Temperaturen steigen. Die Photosynthese in den Ozeanen kommt zum Erliegen. Die Meere werden zu Kloaken aus verrottendem Plankton.
    Das Leben könnte einen Zusammenbruch überstehen. Die Erde hat den Chixclub-Einschlag und die resultierende Dekkan-Schmelze auf der anderen Seite überlebt, allerdings auf Kosten von fünfundzwanzig Prozent aller Spezies. Die Eruption des Sibirischen Trapps vor zweihundertfünfzig Millionen Jahren hatte das reichhaltige Leben des Perm beendet und zum Aussterben von fünfundneunzig Prozent aller Organismen geführt. Das Leben hatte sich über den Abgrund gerettet und war zurückgekehrt. Zwei Eruptionen zur gleichen Zeit bedeuten das Ende der Biologie auf der Erde.
    Lisa Durnau muss zusehen, wie ihre Welt untergeht.
    Das ist nicht natürlich. Das ist ein gezielter Angriff. Thomas Lull hatte Alterre mit einem robusten Immunsystem konstruiert, um es vor den unvermeidlichen Hacks zu schützen. Damit ein Angreifer an den Kaihs vorbeikommt, die die geophysikalischen, ozeanologischen und klimatologischen Systeme steuern, muss er Zugriff auf die zentralen Register haben. So etwas kann nur ein Insider.
    Lisa Durnau zieht sich aus Alterre zurück auf die Terrasse des Haveli im Sommerregen. Sie zittert. In London ist Lisa Durnau einmal vor dem Eingang zur Metro ausgeraubt worden. Es war kurz und heftig, aber nicht besonders brutal abgelaufen. Einfach nur schnell und geschäftsmäßig: ihr Bargeld, ihre Karten, ihr Palmer, ihre Schuhe. Bevor es ihr richtig bewusst wurde, war es auch schon vorbei. Sie hatte das Verbrechen mit dumpfer Fügsamkeit über sich ergehen lassen, fast in der Rolle eines wissenschaftlichen Beobachters. Erst anschließend kam die Angst, das Zittern, die Wut, die Empörung über das, was man ihr angetan hatte, und über ihre völlige Passivität während des Geschehens.
    Hier war eine ganze Welt überfallen und ausgeraubt worden.
    Die Verbindung zum Institut steht fast schon, bevor ihr klar wird, was geschieht. Lisa Durnau wischt die Adresse weg, klappt die Lade zu und schiebt sie wieder in die Tasche. Sie darf ihre Deckung nicht verlassen. Sie weiß nicht, was sie tun soll. Und sie sieht ihn, Thomas Lull, wie er sich über den Rezeptionstresen beugt, nach seinem Schlüssel fragt, mit tropfnassem Surferhemd und weiten Shorts und glatt anliegendem Haar, während sich unter ihm auf dem weißen Marmor kleine Pfützen ausbreiten. Er hat sie nicht gesehen. Für ihn ist sie einen halben Planeten entfernt auf irgendeinem Hügel in Kansas. Lisa Durnau will gerade seinen Namen rufen, als die zwei Männer in den billigen Anzügen und Sandalen aufstehen und zum Tresen hinübergehen. Einer zeigt Thomas Lull etwas, das er in der Hand hält. Der andere legt ihm eine Hand auf die Schulter. Er blickt verstört und verwirrt auf, dann öffnet der erste Mann einen großen schwarzen Regenschirm, und zu dritt hasten sie durch den nassen Garten zum Tor, wo in einer Wolke aus Spritzwasser ein Polizeiwagen vorgefahren ist.

42 Lull
    Es ist das Spiel mit dem guten und dem bösen Bullen. Man befindet sich in einem Verhörzimmer. Es könnte auch eine Gefängniszelle sein, ein Beichtstuhl oder eine Folterkammer. Es kommt nur darauf an, dass man nicht hört oder sieht, was draußen vor sich geht. Man weiß nur das, was die Polizisten

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