Cyberabad: Roman (German Edition)
Unterlippe ein. »Es gibt gar keine Tierra-Mission.«
Lisa Durnau stellt fest, dass ihr Mund offen steht.
»Aber die ganze Epsilon-Indi-Geschichte ...«
»Die ist durchaus real. Es gibt tatsächlich eine Tierra. Aber wir fliegen nicht hin.«
»Moment, Moment. Ich habe das Lichtsegel gesehen. Im Fernsehen. Verdammt, ich habe es sogar mit eigenen Augen gesehen, als Sie es bei diesem Testflug zum L-fünf-Punkt und zurück geschickt haben. Freunde von mir haben ein Teleskop. Wir hatten eine Grillparty. Wir haben es auf einem Monitor gesehen.«
»Daran zweifle ich nicht. Das Lichtsegel ist real, und wir haben es tatsächlich zum Lagrange-fünf-Punkt geschickt. Nur dass es kein Testflug war. Es war die Mission.«
Im selben Jahr, als Lisa Durnau es ins Fußballteam der Fremont High geschafft und festgestellt hatte, dass Rock Boyz, Poolpartys und Sex keine gute Kombination waren, hatte die NASA Tierra entdeckt. Extrasolare Planeten waren schneller aus dem schwarzen Nichts aufgetaucht, als die Astronomen in ihren mythologischen Nachschlagewerken blättern konnten, um passende Namen herauszusuchen. Doch als das Darwin Observatory seine Rosette aus sieben Teleskopen noch einmal für einen genaueren Blick auf Epsilon Indi gerichtet hatte, das nur zehn Lichtjahre entfernt war, fand man einen blassblauen Klecks, der sich an die Wärme der Sonne kuschelte. Eine Wasserwelt. Eine Erdwelt. Spektroskope zerlegten die Atmosphäre und fanden Sauerstoff, Stickstoff, CO 2 , Wasserdampf und komplexe Kohlenwasserstoffe, die nur das Resultat biologischer Aktivität sein konnten. Da draußen lebte etwas, nahe der Sonne in der schmalen bewohnbaren Zone von Epsilon Indi. Vielleicht nur Ungeziefer. Vielleicht nur Leute, die mit Teleskopen unseren blauen Klecks neben unserer Sonne beobachteten. Das Entdeckerteam taufte den Planeten Tierra. Ein Texaner reichte sofort einen Anspruch auf den Planeten ein, mitsamt allem, was darauf lebte. Es war diese Geschichte, die den Promi-Klatsch und das Verbrechen des Monats verdrängte und Tierra zum Tratschthema an der Supermarktkasse machte. Eine andere Erde? Wie ist da das Wetter? Wie kann dem Kerl ein Planet gehören? Er muss nur einen Claim einreichen, mehr nicht. Das wäre so, als wäre die Hälfte deiner DNS das Eigentum irgendeines Biotech-Konzerns. Jedes Mal, wenn du Sex hast, verletzt du das Copyright.
Dann kamen die Bilder. Die Auflösung von Darwin war hoch genug, um Oberflächendetails auszumachen. In jeder Schule der entwickelten Welt hing eine Landkarte mit Tierras drei Kontinenten und den riesigen Ozeanen an der Wand. Dieses Bild wechselte sich als Bildschirmschoner von Lisa Durnaus KL-Projekt während ihres ersten Jahres an der UCSB mit Emin Perry ab, dem amtierenden olympischen Weltmeister über fünftausend Meter. Die NASA plante eine interstellare Raumsonde, die gemeinsam mit First Solar, der Orbitalabteilung von EnGen, gebaut werden sollte, mit Hilfe des orbitalen Maserantriebs und eines Lichtsegels. Die Flugzeit würde zweihundertfünfzig Jahre betragen. Als die geplante Entwicklungszeit immer länger wurde, zog sich Tierra in den Hintergrund der öffentlichen Wahrnehmung zurück, und Lisa Durnau fand es viel leichter und befriedigender, im Universum innerhalb ihres Computers fremde Welten zu erkunden und neuartige Lebensformen zu entdecken. Alterre war so real wie Tierra und viel preiswerter und einfacher zu erreichen.
»Ich verstehe nicht, was hier vor sich geht«, sagt Lisa Durnau jetzt.
»Das Projekt Tierra-Sonde ist eine vorstellbare Lösung«, erwidert Suarez-Martin. Ihr Haar ist mit einer Anordnung von glitzernden Klammern zurückgesteckt. Lisas kurzer lockiger Bubikopf umschwebt sie wie ein kosmischer Nebel. »Die tatsächliche Mission bestand darin, einen Raumantrieb zu entwickeln, der leistungsfähig genug ist, um ein großes Objekt zum orbital stabilen Lagrange-fünf-Punkt zu bewegen.«
»Was für ein großes Objekt?« Lisa Durnau kann nichts von dem, was in den vergangenen fünfzig Stunden geschehen ist, mit der Erfahrung in Verbindung bringen, die sie in siebenunddreißig Jahren angesammelt hat. Man sagt ihr, dies sei der Weltraum, doch hier ist es heiß, es stinkt nach Füßen, und man sieht überhaupt nichts. Die Regierung zieht gerade den größten Taschenspielertrick der Geschichte durch, aber niemand bemerkt es, weil alle nur die hübschen Bilder betrachtet haben.
»Einen Asteroiden. Diesen Asteroiden.« Daley Suarez-Martin palmt eine Grafik auf den Bildschirm.
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