Cyberabad: Roman (German Edition)
auf das Rütteln von Affenhänden und -füßen in den Ranken vor seinem Fenster. Er treibt bereits an der Grenze zum Schlaf und driftet ins Unbewusste ab, als er plötzlich wieder aufwacht, weil halb vergessene Geräusche aus der Stadt zu ihm durchdringen. Vishram gibt sich geschlagen und tritt nackt auf den eisernen Balkon. Die Luft und das Parfüm der Stadt bestäuben seine Haut. Ansammlungen blinkender Flugzeuglichter bewegen sich die dunstige gelbe Skyline entlang. Die Soldaten, die während der Nacht fliegen. Er versucht sich einen Krieg vorzustellen. Roboter, Killermaschinen, die durch die Gassen rennen, Titanklingen in allen vier Händen, Avatare von Kali. Kaih-Kampfjäger, deren Piloten sich auf der anderen Seite des Planeten befinden und die im Tiefflug über den Ganges herankommen. Awadhs amerikanische Verbündete kämpfen auf die moderne Weise, ohne dass ein einziger Soldat das Land verlässt, ohne einen einzigen Leichensack. Sie töten aus kontinentalen Entfernungen. Er befürchtet, dass die seltsame Szene, die heute auf der Straße aufgeführt wurde, prophetische Bedeutung hat. Zwischen der Wasserkrise und den Fundamentalisten ist den Ranas jeglicher Handlungsspielraum abhandengekommen.
Knirschender Kies und eine Bewegung auf dem silbrigen Rasen. Ram Das taucht aus dem Mondschatten unter den Harsingars auf. Vishram erstarrt auf dem Balkon. Eine weitere westliche Verhaltensweise, die er angenommen hat: zwanglose Nacktheit. Ram Das tritt auf den rasierten Rasen, teilt sein Dhoti und pisst unter dem trägen Mond von Indien, der den Kopf schief hängen lässt wie ein Tempel-Gandharva. Ram Das schüttelt ab, dreht sich um und wackelt dann langsam mit dem Kopf in Vishrams Richtung – ein Gruß, eine Segnung. Er geht weiter. Ein Pfau schreit.
Endlich zu Hause.
Zweiter Teil – SAT CHID EKAM BRAHMA
9 V ishram
Bis vor dreißig Minuten hat Vishram Ray sich der Tatsache gerühmt, nie einen Anzug besessen zu haben. Ihm ist stets bewusst gewesen, dass er eines Tages einen brauchen könnte, und für diesen Fall lässt er bei einer chinesischen Schneiderfamilie in Varanasi seine Maße, Angaben zu Stoff, Schnitt, Fütterung und zwei Hemden bereithalten. Diesen Anzug trägt er nun auf seinem Platz am Teaktisch im Sitzungssaal von Ray Power. Er ist vor einer halben Stunde per Fahrradkurier im Shanker Mahal eingetroffen. Vishram war noch dabei gewesen, den Kragen und die Manschetten zurechtzurücken, als die Wagenflotte vor der Treppe zum Haus hielt. Jetzt befindet er sich im zwanzigsten Stock des Ray Tower, und Varanasi ist ein versmogter brauner Fleck zu seinen Füßen und der Ganges eine ferne Locke aus angelaufenem Silber, während ihm immer noch niemand sagen will, worum es hier geht.
Diese Chinesen verstehen etwas von Stoff. Der Kragen sitzt perfekt. Er kann kaum die Nähte sehen.
Die Tür zum Sitzungssaal öffnet sich. Firmenanwälte strömen herein. Vishram Ray überlegt, wie die Sammelbezeichnung für Firmenanwälte lautet. Ein Flor? Eine Verscheißerung?
Die Letzte in der Reihe ist Marianna Fusco. Vishram Ray spürt, dass ihm der Mund offen steht. Marianna Fusco bedenkt ihn mit dem Hauch eines Lächelns, was erheblich weniger ist, als man von jemandem erwarten würde, mit dem man a) erstklassigen Sex hatte und b) in einen Straßenkrawall verwickelt war, und nimmt ihm gegenüber Platz. Unter dem Teaktisch klappt Vishram seinen Palmer auf und tippt unsichtbaren Text.
WAS ZUM TEUFEL MACHEN SIE HIER?
Das Personal öffnet die Doppeltür, um nun die Vorstandsmitglieder hereinzulassen.
ICH HABE IHNEN DOCH GESAGT, DASS ES UM EINE GESCHÄFTLICHE FAMILIENANGELEGENHEIT GEHT. Für Vishram sieht es aus, als würde Mariannas Nachricht über ihren Brüsten schweben. Sie trägt wieder den guten und außerordentlich praktischen Anzug. Aber auch er sieht gar nicht so schlecht aus. Die Banker und Vertreter der Kreditgenossenschaften und Grameen-Banken nehmen ihre Plätze ein. Viele der Leute aus den ländlichen Mikrokredit-Instituten haben sich ihr ganzes Leben lang noch nie so weit von der Erdoberfläche entfernt. Während Vishram sich gelassen mit der linken Hand Wasser einschenkt und mit der rechten IST DAS HIER EIN SPIEL? tippt, betritt sein Vater den Raum. Er trägt einen schlichten Anzug mit Rundkragen – die Länge der Jacke ist seine einzige Konzession an die Mode –, und trotzdem drehen sich alle Köpfe in seine Richtung. Sein Gesicht zeigt einen Ausdruck, den Vishram nicht mehr gesehen hat, seit er ein
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