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Cyberabad: Roman (German Edition)

Cyberabad: Roman (German Edition)

Titel: Cyberabad: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McDonald
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Beschreibung dieses denkenden Universums. Lisa hörte nur noch ein helles Summen hinter ihren Augen – das, was man hörte, wenn man weinen wollte, es aber nicht durfte. Sie saß vernichtet zwischen den Kaffeetassen und Schokoladencroissantflecken. Sie wusste gar nichts. Sie hatte keinerlei Begabung. Sie war arrogant und dumm und riss das Maul auf, während jeder vernünftige Doktorand schweigend dagesessen und genickt hätte, während er die Kaffeetassen nachfüllte und die Kekse herumreichte. Ihr Stern hatte den absoluten Nadir erreicht. Stephen Sanger sagte etwas Ermutigendes, als Lisa sich nach draußen schlich, aber sie war völlig am Boden zerstört. Sie weinte den ganzen Weg zurück durch den Hyde Park, durch Bayswater und bis zur Paddington Station. Im Bahnhofsrestaurant kippte sie eine halbe Flasche Dessertwein hinunter – das Einzige auf der Speisekarte, um schnell genug betrunken zu werden. Sie saß am Tisch und zitterte vor Scham und Tränen und in der Gewissheit, dass ihre Karriere vorbei war. Sie konnte diese Sache nicht durchziehen; sie wusste nicht einmal genau, was die anderen gemeint hatten. Ihre Blase meldete sich zehn Minuten vor Abfahrt ihres Zuges. Sie saß in der Kabine, die Jeans um die Knie geknüllt, und bemühte sich, nicht laut zu schluchzen, weil die Akustik der Londoner Bahnhofstoiletten es verstärken würde, so dass jeder es hören konnte.
    Und dann sah sie es in aller Deutlichkeit. Sie konnte gar nicht sagen, was genau sie sah, während sie auf die Tür der Toilettenkabine starrte. Es hatte keine Gestalt, keine Form, keine Worte oder Theoreme. Aber es war plötzlich da, vollständig und unvorstellbar schön. Und es war einfach. Es war völlig einfach. Lisa Durnau stürmte aus der Kabine, hetzte zum Schreibwarenladen und kaufte sich einen Block und einen großen Filzstift. Dann rannte sie zu ihrem Zug. Sie schaffte es nicht. Irgendwo zwischen dem fünften und sechsten Waggon traf es sie wie ein Blitz. Sie wusste genau, was sie zu tun hatte. Sie kniete schluchzend auf dem Bahnsteig, während ihre zitternden Hände versuchten, Gleichungen zu notieren. Ideen durchströmten sie. Sie stand in direkter Verbindung mit dem Kosmos. Die Abendschicht strömte um sie herum, ohne sie anzustarren. Alles in Ordnung, wollte sie den Leuten sagen. Alles ist einfach wunderbar.
    M-Stern-Theorie. Es war die ganze Zeit da gewesen, genau vor ihrer Nase. Warum hatte sie es nicht gesehen? Elf Dimensionen, die in Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten verschlungen sind, drei davon entfaltet, eine zeitlich und sieben auf Planck-Länge zusammengerollt. Doch die Henkel, die Löcher in den Gebilden geben die Schwingungsenergien der Superstrings vor und damit die Harmonie, die ihre fundamentalen physikalischen Eigenschaften darstellen. Jetzt musste sie die Cybererde lediglich als Calabi-Yau-Raum modellieren und die Äquivalenz zu einer physikalischen Möglichkeit der M-Stern-Theorie beweisen. Alles lag nur in der Struktur. Da draußen gab es ein Universum mit einem eingebauten Bordcomputer. Dort waren Bewusstseine Teil des Gefüges der Realität, nicht nur als Möglichkeit in der Evolution des Kohlenstoffs angelegt wie in dieser Blase des Polyversums. Ganz einfach. Unglaublich einfach.
    Während der gesamten Heimfahrt im Zug weinte sie vor Freude. Ein junges französisches Touristenpärchen saß ihr am Tisch gegenüber. Die beiden berührten sich jedes Mal nervös, wenn Lisa erneut in einem Anfall von Glückseligkeit erschauderte. Ihre Gefühlsausbrüche ließen sie immer wieder ihr Zimmer verlassen und durch Oxford streifen, während sie in der Woche darauf ihre Erkenntnisse niederschrieb. Jedes Gebäude, jede Straße, jedes Geschäft und jeder Mensch erfüllte sie mit intensivem Entzücken über das Leben und die Menschheit. Sie war in alle Dinge verliebt. Stephen Sanger hatte ihre Entwürfe durchgeblättert, und mit jeder Seite war sein Grinsen breiter geworden. Schließlich sagte er: »Sie haben sie an den Eiern gepackt!«
    Als sie in Thomas Lulls Büro mit der viel zu kalten Klimaanlage saß, konnte Lisa Durnau immer noch das emotionale Nachglühen dieser Ausbrüche abrufen, wie das Mikrowellenecho des Urknallfeuers. Thomas Lull drehte sich mit seinem Stuhl herum und beugte sich zu ihr vor.
    »Okay«, sagte er. »Sie sollten zwei Dinge über diesen Laden hier wissen. Das Klima ist unter aller Sau, aber die Leute sind verdammt freundlich. Seien Sie höflich zu ihnen. Vielleicht brauchen Sie sie noch.«
    Zu Thomas Lulls

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